Wie bei Filmen gibt es bei Büchern auch Szenen, die im Laufe der Entwicklung geändert, gekürzt oder ganz herausgenommen werden. Das geschieht größtenteils zum Wohle des Ganzen und mit Zustimmung des Autors. Diese Szenen müssen deswegen nicht schlechter als andere sein; sie haben vielleicht nur nicht ganz ins Gesamtbild gepasst oder das Tempo gestört.

Hier bietet sich mir nun die Gelegenheit, diese Szenen trotzdem zu veröffentlichen, was ich sehr gerne mache, denn sie vervollständigen somit meine Bücher, geben teilweise einen tieferen Einblick in die Charaktere und die Handlung und schließlich habe ich sie ja irgendwann einmal geschrieben, damit sie gelesen werden.

Viel Spaß damit!

 

 

 

 

 

KÖNIG FÜR EINEN SOMMER

 

 

 

 

 

Der Spanien-Urlaub. Ich muss zugeben, dass ich genau dort mit Streichungen gerechnet hatte, und so kam es dann auch. Das erste Problem war der übermässige und detailliert beschriebene Alkoholkonsum. Die folgende Szene fiel heraus, weil sie nicht wirklich wichtig für die Handlung ist, sondern tatsächlich nur die exzessive Sauferei beschreibt, was in der Tat eventuell in diesem Ausmaß als langatmig empfunden werden könnte. Allerdings wird durch diese Szene vielleicht noch etwas deutlicher, warum die Jungs so schnell aus dem Appartment geflogen sind.

 

Es beginnt mit einer etwas deutlicheren Einführung in das Kartenspiel der Jungs (Buchseite 115):

 

Es wurde Karten gespielt. Nicht um Karten zu spielen, sondern um einen Grund zum Trinken zu haben. Es war ein Saufspiel. Heckepenner. Auf dem Tisch lag ein verdeckter Stapel Karten. Reihum musste jeder eine Karte aufdecken und die Karte nennen, die der Reihenfolge nach dran wäre. 7, 8, 9, 10, Bube, Dame, König, As . Wer z.B. acht sagte, und tatsächlich eine acht aufdeckte, musste schnell mit der flachen Hand auf den offenen Stapel schlagen und "Heckepenner" rufen. Wer seine Hand als letztes auf den Stapel kriegte oder "Heckepenner" nicht sagte, oder falsch aussprach, hatte verloren und musste ein Glas auf Ex trinken. Den Inhalt des Glases bestimmte der Verlierer der Vorrunde. Ein nettes Spiel. Besonders, weil man bei längerer Spieldauer nicht unbedingt besser darin wurde. Rudi schien am häufigsten verloren zu haben. Er konnte kaum noch sehen, welche Karte er aufdeckte. 7, 8, 9, 10...

"Bube!...Heppekenner...Ach, Scheiße!" Schon wieder verloren.

Der Rest der Meute gröhlte und klopfte auf den Tisch.

"Rudi! Rudi! Rudi!"

Beckmann schenkte ein. Gin. Pur. 0,1 cl. Warm. Rudi atmete tief durch und setzte an. Mir wurde schon beim zusehen schlecht. Mit schmerzverzerrtem Gesicht schluckte er dreimal schwer und stellte das Glas umgedreht auf dem Tisch ab. Ein kurzes, zufriedenes Grinsen. Dann stand er langsam auf, ging auf den Balkon und kotzte über das Geländer. Man konnte den Gin unten aufklatschen hören. Eine Minute später kam er wieder rein.

"Los, weiter geht's, ihr Luschen! Ich darf anfangen."

 

Die nächste, etwas längere Szene setzt am nächsten Morgen ein, bevor David, Hans und Andi an den Strand gehen (Buchseite 118):

 

"Kommt ihr mit an den Strand?" fragte ich, als wir fertig waren.

"Klar."

"Logisch. Aber lass uns erst nochmal kurz gucken, was die anderen machen."

Wir packten unsere Strandsachen und brachen auf. Die Tür der Jungs war halb geöffnet und man konnte sie bereits draussen gröhlen hören. Heckepenner. Immer noch, oder schon wieder. Rudi, Beckmann, Hagen und Albert sassen nur mit Badehosen bekleidet um den Tisch, und so wie es aussah hatte Hagen am häufigsten verloren. Er grinste über beide Ohren während er ein Bier exte von dem ihm die Hälfte aus den Mundwinkeln über die Brust lief.

"Alle!" rief er und knallte das leere Glas auf den Tisch. "Alle, ihr Hennekepper! Weiter gehs!"

Schlucki sass auf dem Sofa und schlief. Jedenfalls waren seine Augen geschlossen, und er rührte sich nicht. Ost-Ei und Lulatsch waren nicht zu sehen. Wahrscheinlich hatten sie als einzige den Weg ins Bett gefunden.

"Heckepenner!" rief Beckmann und klatschte mit der Hand auf den Tisch. Rudi und Albert folgten ihm. Hagen hing auf seinem Stuhl und seine Arme baumelten links und rechts an ihm herunter. Keine Reaktion.

"Hagen! Heckepenner!"

"Was denn? Schon wieder? Ich bin su alt für diese Scheise."

"Vielleicht hilft ein bisschen frische Luft. Kommt ihr mit an den Strand?" fragte Andi.

"Nee. Is doch viel su heiss da drausen." lallte Hagen. "Suviel Sonne is nich gesund. Gar nich gesund."

"Später vielleicht." sagte Beckmann.

Rudi und Albert brummelten irgendetwas, was als nein zu deuten war.

"Hey, Schlucki! Was ist mit dir?" Ich setzte mich neben ihn auf das Sofa und schüttelte ihn sanft.

"Hallo, Schlucki! Aufwachen!" Ich zwickte ihn in den Arm. Nichts.

"Halt! Warte!" rief Beckmann und sprang auf. "Lass mich mal. Ich weiss, wie das geht."

Beckmann stellte sich vor Schlucki und hielt ihm die Nase zu, bis er seinen Mund öffnete und nach Luft schnappte. 

"Gib mir mal den Gin rüber." Hans reichte ihm die Flasche. Beckmann drückte Schluckis Kopf in den Nacken, immer noch seine Nase zuhaltend. Das nächste,was Schlucki atmete war Gin pur. Er sprang auf, röchelnd, hustend und Gin in die Gegend spuckend.

"Öchö...Öchö...Verdammt! Öchö...Habt ihr sie noch alle? Wer...öchö...war das?"

"Siehst du? Er ist wach." sagte Beckmann und klopfte Schlucki kräftig auf den Rücken.

"Beckmann, du...öchö, öchö...du Arschloch! Gibt mir wenigstens mal einer'n Bier? Mein Hals brennt wie die Hölle."

Ich holte ihm ein Bier aus dem Kühlschrank und er exte es. Mir lief es kalt den Rücken herunter. Es war elf Uhr morgens. Mit Gin geweckt zu werden muss schon eklig sein. Aber danach noch ein Bier zu exen? Ein leichter Brechreiz überkam mich, und ich drehte mich um. Zweimal Würgen. Vorbei.

"Alles klar, David?" fragte Hans.

"Ja, ja. Geht schon. Wollen wir nicht langsam mal abhauen? Schlucki, kommst du mit an den Strand?"

"Erstmal einen bauen. Wo ist das Dope?"

"Du ziehst dir jetzt einen Joint rein?"

"Logisch. Kommt locker."

"Ohne Worte. Na ja, egal. Kannst ja nachkommen."

"Hallo?"

Irgendjemand hatte leise gehallot. Wir sahen uns alle gegenseitig an. Schulterzucken.

"Hallo! Sie da!" 

"Das kommt von draussen." sagte Albert.

"Sie da oben! Hallo!"

"Der will sich bestimmt beschweren." sagte Rudi.

"Was machen wir jetzt?" fragte Andi.

"Ich mach das schon, Jungs!" sagte Hagen und versuchte sich aus seinem Stuhl zu erheben.

"Ich geh jetz raus zu dem Heppekenner, und dann sag ich ihm, er soll gefälligs...Aua."

Er war seitlich umgekippt.

"Vielleicht sollte lieber jemand anderes mit dem Typ reden." sagte Beckmann.

"Hans, geh du raus." sagte ich. "Du bist nüchtern und wirkst etwas seriöser."

"Ich? Aber was soll ich denn sagen?"

"Dir wird schon was einfallen. Los, geh." Wir schubsten ihn auf den Balkon. Einer nach dem anderen krabbelte auf allen Vieren nach draussen um ungesehen mithören zu können.

"Ah, da sind Sie ja." sagte die Stimme. Sie kam vom unteren Balkon.

"Guten Tag." sagte Hans.

"Wissen Sie, ich war ja selbst mal jung. Ich weiss genau, wie das ist. Ich habe absolut nichts dagegen, wenn mal gefeiert wird."

Oh Gott. So einer. Ich war ja selbst mal jung. Ich verstehe die Jugend. Ich bin einer von euch. Mensch, was haben wir gefeiert damals. Und gesoffen. Ach, was haben wir gesoffen. Ich war genauso, wie ihr. Damals. Zu meiner Zeit. Jetzt bin ich leider ein alter frustrierter Sack, dessen Bauch immer fetter wird. Zum Lachen gehe ich in den Keller und am Wochenende genehmige ich mir ab und zu mal ein Glässchen Rotwein. Aber damals, ja, da war ich ein ganz Wilder.

"Sehen Sie, es ist so: Ich komme seit 15 Jahren hierher. Seit 13 Jahren bin ich Eigentümer. Und als Eigentümer versuche ich darauf zu achten, dass hier in der Anlage alles ruhig und im Rahmen bleibt. Es darf ruhig einmal gefeiert werden. Wie gesagt, ich war selbst mal jung. Aber im Rahmen muss es bleiben. Das gestern Nacht war ein bisschen übertrieben, aber wissen Sie ja sicher selbst ganz genau. Ich gehe davon aus, dass das eine einmalige Sache war? Ich meine das jetzt wirklich nicht böse, wissen Sie? Ich denke nur, dass es möglich sein sollte, gepflegt miteinander umzugehen und Rücksicht auf seine Mitmenschen zu nehmen."

"Aha."

"Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet."

Hans drehte seinen Kopf unauffällig in unsere Richtung und flüsterte: "Welche Frage meint er?"

"Er will wissen, ob das letzte Nacht eine einmalige Sache war." flüsterte ich zurück.

"Ach so...Also, ja...Wissen sie...Das war tatsächlich eine einmalige Sache gestern. Es war nämlich so, dass...Na ja, sie wissen ja wie das ist...Wir haben gestern...ähm...Geburtstag gefeiert. Ja, genau. Einer von uns hatte gestern Geburtstag. Und das ist dann etwas ausgeufert. Das tut uns natürlich sehr leid. Es wird nicht wieder vorkommen. Versprochen."

"Ein Geburtstag? Ja, das kann natürlich mal passieren. Wenn ich da an meine..."

"Un' morgen hab ich Geburstag! Hä, hä!" Hagen. Er lag immer noch dort, wo er umgefallen war. Beckmann stürzte hinein und hielt ihm den Mund zu. Wir mussten uns alle selbst den Mund zuhalten, damit wir nicht losprusteten vor Lachen.

"Wie bitte?"

"Ach....das war nichts. Nur das Radio. Beckmann, stell doch mal den Kasten leiser!"

Hans musste sich ebenfalls sehr zusammenreissen. Sein Körper bebte bereits vor unterdrücktem Lachen.

"Also, nichts für ungut dann. Einen schönen Aufenthalt noch. Auf gute Nachbarschaft."

"Ja...ähm...danke. Und entschuldigen sie bitte noch einmal. Es kommt nicht wieder vor. Auf Wiedersehen."

Wir flüchteten nach drinnen, schlossen die Balkontür und brachen lachend zusammen.

So witzig das auch war, ganz wohl fühlte ich mich nicht dabei. Noch so eine Nacht, und wir würden mit Sicherheit rausfliegen. Und ich kannte doch die Jungs. Dieser Eigentümer würde sie nur anspornen. 

"Was, wenn wir rausfliegen?"

"Dann pennen wir eben am Strand." sagte Beckmann.

"Genau. Wir ziehen einfach Richtung Süden weiter. Is doch eh nix los hier." bestätigte Albert.

"Wie wär's, wenn ihr euch einfach mal zusammenreisst und heute Abend soft macht?"

Ich hatte keine Lust am Strand zu schlafen. Jedenfalls nicht zwei Wochen lang. Mir gefiel unser Appartment. Der Kühlschrank, der Balkon, das Bett. Alles sehr praktische Sachen, auf die ich ungerne verzichten würde. 

"Ey, klar machen wir heute Abend soft, Mann." versuchte Hagen mich zu beruhigen, wobei er immer noch über beide Ohren grinste. "Oder Jungs?"

"Klar."

"Logisch."

"Selbstverständlich."

"Obersoft."

"Mach dir keinen Kopp."

"Na dann ist's ja gut. Können wir jetzt endlich an den Strand gehen?"

 

Die nächste, kleinere Szene, eigentlich nur ein Dialog, sollte Beckmanns' Verhältnis zu den Frauen etwas deutlicher machen, was später noch Folgen haben wird. (Buchseite 145):

 

"Nö, morgen ziehen wir weiter." sagte Albert.

"Lasst uns nach Lloret fahren." sagte Beckmann. "Ich sag euch, da geht's tierisch ab."

"Is' doch auch so ne Scheiss-Touri-Stadt voller Beton-Bunker." maulte Hagen.

"Aber da ist echt die Hölle los. Tausende willige Weiber. Ich muss unbedingt mal wieder ficken. Nur für einen Tag, dann hauen wir wieder ab."

"Du wirst doch wohl mal zwei Wochen ohne auskommen."

"Nicht, wenn ich nicht muss."

"Und was ist mit Daniela?"

"Was soll mit Daniela sein?"

"Ich dachte, ihr seid zusammen?"

"Sind wir auch. Aber Daniela ist 1400 Kilometer weit weg und ich hab' dicke Eier."

Die Diskussion ging endlos weiter. Ficken oder nicht ficken. In Lloret oder nicht in Lloret. Wenn nicht dort, wo dann? Sie kamen zu keiner Einigung.

 

Beckmanns Sexbesessenheit drückt sich auch in diesem Dialog (fast schon ein Monolog) aus. Diese Szene findet statt kurz bevor die Jungs in die Dali-Disco aufbrechen (Buchseite 151):

 

"Hey, Leute! Alles fit?" Ich schob einen Stuhl ran und setzte mich neben Beckmann.

"Logisch! Und bei euch?"

"Bestens."

"Also, wo war ich?" sagte Beckmann. "Ach ja. Weisste, wenn du dann so an die ersten Hügel kommst, machst du voll den Abstecher mit deiner Zunge so und gehst ganz langsam am Rücken hinten runter bis du so richtig am Hüftknochen bist."

"Hat er etwa immer noch nicht gefickt?"

"Nein. Kein Frauenmaterial."

"Und dann, weisste, dann kommt eh der geilste Teil. So unten, bevor der Hüftknochen anfängt, dieses weiche Teil. Boah, und dann fährt sie ab. Dann windet sie sich vor Erotik. Und alles nur wegen deiner geilen Zunge so."

"Gut, dass wir morgen heimfahren. Länger überlebt er nicht ohne Fick."

"Was denn? Das ist pure Erotik, ihr sexuellen Wüstenläufer. Es gibt nichts besseres, als ein frischgeduschter, wunderschöner Frauenkörper mit leichten Anflügen von obergeilem Parfüm, das irgendsoein langhaariges Arschloch kreiert hat. Glatte, weiche Haut. Oh, Mann, die Haut. Das ist eh das beste. Und das hat mit Ficken überhaupt nichts zu tun."

"Nein."

"Natürlich nicht."

"Überhaupt nicht."

"Ach, was wisst ihr schon? Der einzige, der hier mit Sicherheit in den letzten drei Monaten gefickt hat, ist ja wohl Vadder Hans. Und dann gleich richtig mit Volltreffer. Oder, Hans?"

"Ich hatte mal eine, die hatte Haare auf der Brust." sagte Lulatsch.

"Logisch. Zwischen den Brüsten. Hatte ich auch mal." sagte Albert.

"Nee, so richtig auf den Brustwarzen. Ihh, war das eklig."

"Mann, Mann, ihr versteht es wirklich einen auf den sinnlichen Tiefpunkt runterzuziehen. Ich hätte euch jetzt locker verbal ins erotische Nirvana führen können, und ihr kommt mit behaarten Brustwarzen. Danke, Jungs. Vielen Dank."

"Übermorgen darfst du wieder, Beckmann."

"Gottseidank. Daniela. Frisch geduscht. Ein Hauch von Parfüm auf ihrem Tattoo. Oh Mann! Wollen wir nicht heute schon fahren?"

"Daniela ist tätowiert?" fragte Lulatsch.

"Logen. Aber ich sag dir nicht, wo! Vergiss es!"

"Wie wär's mit ner Runde Heckepenner?" schlug Rudi vor, der vom Duschen gekommen war.

"Nee, nicht schon wieder." sagte Lulatsch. "Lasst uns noch n bisschen soft machen vor heute Abend."

"Auf der Hauptstrasse is ne Bar. Die haben von 6 bis 8 Happy Hour. Zwei zum Preis für eins. Wollen wir da hingehen, bevor wir in die Disse fahren?"

"Klingt gut. Von mir aus."

"Logisch, das machen wir. Aber heute Abend kommen wirklich alle mit. Oder, David?"

"Klar. Hab ich doch schon gesagt. Ich bin dabei."

 

Die nächste und letzte Szene, die es nicht ins Buch geschafft hat, ist eigentlich ein ganzes Kapitel. Da es größtenteils auf die Sachen aufbaut, die vorher schon gestrichen wurden (Beckmann, hauptsächlich), hätte es inhaltlich nicht mehr zum Rest gepasst, also flog es komplett raus. Chronologisch hätte es zwischen den Kapiteln "Techno, verstanden" und "Gross und klein" stehen sollen (Buchseite 200):

 

"Welche Frage meint er?"

"Er will wissen, ob das letzte Nacht eine einmalige Sache war." flüsterte ich zurück.

"Ach so...Also, ja...Wissen sie...Das war tatsächlich eine einmalige Sache gestern. Es war nämlich so, dass...Na ja, sie wissen ja wie das ist...Wir haben gestern...ähm...Geburtstag gefeiert. Ja, genau. Einer von uns hatte gestern Geburtstag. Und das ist dann etwas ausgeufert. Das tut uns natürlich sehr leid. Es wird nicht wieder vorkommen. Versprochen."

"Ein Geburtstag? Ja, das kann natürlich mal passieren. Wenn ich da an meine..."

"Un' morgen hab ich Geburstag! Hä, hä!" "Zurückspulen!" prustete Beckmann. "Los, spul zurück! Das muss ich nochmal sehen."

Wir sassen bei Hans im Wohnzimmer. Er hatte alle Spanien-Beteiligten eingeladen, auch die Mädels, um uns das Video vorzuführen. Ich hatte schon völlig verdrängt, dass ständig jemand mit der Kamera in der Hand herumgelaufen war. Gott, ich hasse es mich auf Video zu sehen. Das bin ich nicht. So rede ich nicht. Rede ich wirklich so? Zum Glück war ich nur sehr selten zu sehen. 

"Ah! Ich bin blind! Ich bin blind!" schrie Schlucki, als Hagen splitternackt und frontal auf dem Bildschirm erschien.

"Das ist nichts für dich, Schatz." sagte Beckmann und hielt seiner Daniela die Augen zu. Daniela war die einzige Anwesende, die nicht mit in Spanien gewesen war. Ich hatte überlegt, Kelly zu fragen, ob sie mitkommen will, aber das wäre mir dann doch zu peinlich gewesen. Diese Bilder waren wirklich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Schlimm genug, dass es sie überhaupt gab. Aber Beckmann machte es nichts aus, dass seine Freundin ihn so sah. Ob er sich daran erinnerte, dass sein Sexuelles Nirvana-Monolog auch gefilmt wurde?

Endlich kamen wir zu den interessanten Stellen, für mich jedenfalls. Die Zeit, in der Hans mit den Jungs unterwegs war und Andi und ich in Santa Margarita geblieben sind. 

Irgendein Strand. Viele Leute. Beckmann, Albert und Rudi mit hochgekrempelten Hosen bis zu den Knien im Wasser, jeder ein Longdrink-Glas in der Hand. Schnitt. Moni und Tanja oben ohne, ebenfalls stehend im Wasser. Moni mit Schnorchel im Mund. Tanja schüttet von oben den Inhalt eines Glases (Gin-Lemon, wahrscheinlich) in den Schnorchel. Moni schluckt zweimal und spuckt den Rest hustend aus. Schnitt. Beckmann mit Schnorchel. Gleiche Prozedur. Beckmann trinkt und grinst. Schnitt. Grossaufnahme eines Longdrink-Glases mit einem Seeigel auf dem Glasboden.

"Willkommen in der Strandbar...wie heisst das Nest hier?"

"Begur."

"Willkommen in der Strandbar Begur. Hans, du musst die Zubereitung des Drinks jetzt genau filmen, okay?"

"Alles drauf."

Hagen hält das Glas. Beckmann giesst Gin hinein, halbvoll.

"Gib mal jemand Lemon rüber."

Das Glas wird mit Lemon aufgefüllt. Hagen nimmt einen Schluck.

"Geht so."

Die Farbe des Drinks wechselt deutlich sichtbar langsam von grün zu urin. Beckmann nimmt einen kräftigen Zug.

"Hmmm, Seeigel-Royal."

"Sieht aus, als hätte der Seeigel reinspermiert." sagt Albert.

"Eher gepinkelt." sagt Rudi.

"Sollte Alkohol etwa doch giftig sein?"

"Nur für Seeigel. Los, du bist dran."

Albert nimmt einen Zug und verzieht angeekelt das Gesicht. Rudi leert das Glas mit einem Schluck.

"Bähh, ist das widerlich."

"Komm, wir machen ne neue Mischung."

Beckmann füllt das Glas wieder auf. Die Farbe hält sich etwas länger. Das Glas macht erneut die Runde. Schnitt. Albert auf allen Vieren über dem Sand. Lautes Würgen, Brechgeräusche.

"Na, noch nen Seeigel-Royal?"

"Leck mich."

Schnitt. Beckmann ganz nah vor der Kamera. Nur Augen und Nase sichtbar. Flüsternd.

"Hans, ich erzähl jetzt mal ein Geheimnis, nur für die Kamera. Weißt du, was ich jetzt gerne machen würde? Ich würd jetzt mal voll gerne so geile aus dem Wasser kommende Nippel lutschen. Da hätt ich jetzt Ober-Bock drauf. Und am liebsten die von der Tanja. Weil die nämlich genauso aussehen, wie die von Daniela. Das gibt dann später nämlich keinen Ärger zu Hause, weisste?" Beckmann lacht. Schnitt.

Stille. Schlucki prustete als erster los. Der Rest fiel sofort mit ein. Bis auf Daniela natürlich. Und Tanja, die rot anlief und ihr Gesicht hinter ihrer Hand zu verstecken versuchte.

"Oh Scheiße!" sagte Beckmann grinsend. "Das hab ich ja voll vergessen."

Daniela stand auf und knallte Beckmann eine mit der flachen Hand.

"Was denn? Ich hab doch gar nichts gemacht, verdammt! Ich war den ganzen Urlaub lang brav gewesen. Frag doch Tanja! Oder Tanja? Hab ich dich irgendwie angemacht?"

"Nein, hat er nicht." sagte Tanja, immer noch die Hand vorm Gesicht.

"Na also! Jetzt stell dich nicht so an, Dani. Es war wirklich nichts. Das war doch nur'n Spruch."

Sie knallte ihm noch eine.

"Wenn sich unsere Nippel so ähnlich sehen, kannst du ab heute ruhig an ihren lutschen!"

Und weg war sie.

"Oh Mann! Das glaub ich jetzt ja wohl nicht! Was ist nur los mit den Weibern? Ich hab doch überhaupt gar nichts gemacht, oder?"

"Du hast sie auf ihre Nippel reduziert." sagte Moni.

"Ach, Quatsch! So ein Blödsinn! Das war doch nur ein blöder Spruch. Und ausserdem - wenn man's schon ernstnehmen muß - eigentlich ein Kompliment für sie."

"Ein Kompliment? Da hab ich aber schon bessere gehört."

"Nein, im Ernst. Ich habe ihre Nippel ja quasi gelobt. Ich wollte nicht irgendwelche Nippel, sondern am liebsten welche, die so aussehen, wie ihre. Das zeigt doch nur, dass ich an sie gedacht und sie vermisst habe."

"Ihre Nippel."

"Ja...Nein! Nicht nur ihre Nippel, verdammt! Warum müßt ihr Frauen bloss immer alles so kompliziert machen?"

"Weil ihr es euch zu leicht macht."

"Ich finde schon, sie hat ein bisschen überreagiert." sagte Tanja. "Er hat ja tatsächlich nichts gemacht."

"Danke, Tanja. Wenigstens eine auf meiner Seite. Komm, setz dich zu mir."

Andi und ich schlossen eine Wette ab, wie lange es dauern würde bis Beckmann zwei neue Nippel zum Lutschen haben würde. Ich sagte zwei, Andi drei Stunden. Ich habe gewonnen. Ich denke übrigens nicht, dass Beckmann Frauen auf ihre Nippel reduzierte. Er reduzierte sie auf ihre Verfügbarkeit. Und Tanja war sehr verfügbar.

Das war jetzt schon das zweite Wochenende ohne Sinatra. Er fehlte mir. Nicht körperlich, oder so. Ich hatte keine spürbaren Entzugserscheinungen. Das Backenbitzeln fehlte mir; das Gefühl, was dahintersteckte. König zu sein, nur mal wieder für eine Nacht. Ich fühlte mich zu gewöhnlich, zu normal, keine Höhen, keine Tiefen, gar nichts. Natürlich hätte ich auf die Konsti gehen können und es erzwingen, aber das war es einfach nicht. Sinatra müsste so zu mir kommen, quasi freiwillig, schicksalsmässig.

 


 

 

 

 

 

NICHTS WIE WEG!

 

 

 

 

 "Kein Zauberer in Oz?", so würde dieses Buch heißen, wenn es nach mir gegangen wäre, ging es aber nicht. Als zweiten Vorschlag hatte ich "Ausgerechnet Australien", aber auch das gefiel den Leuten von Ravensburger nicht, und jetzt ist es eben "Nichts wie weg!" geworden. Der Titel ist okay, aber meine erste Wahl war er nicht. 

 

Die folgende Szene beschreibt eine weitere Begegnung Lukas’ mit Franzosen. Ursprünglich sollte er etwas länger in Cairns bleiben, aber dann mussten wir seinen Aufenthalt dort aus Tempogründen auf eine Woche beschränken, und diese Franzosen flogen raus. Zeitlich spielt die Szene kurz nach seinem Fahrradausflug.

 

Dies scheint die Woche der Franzosen zu sein, ich hatte gerade meine zweite Begegnung mit ebensolchen. Ich probierte es einmal mehr mit einer Solo-Partie Pool, wollte eigentlich gerade nach drei ereignislosen Spielen aufhören, als mich eine blonde, Anfang 20-jährige Französin ansprach. Natürlich verstand ich fast nichts von dem, was sie mir sagte (ich hatte in Französisch immer eine 5, es lag mir einfach nicht), aber ein paar Brocken Englisch und ein bisschen Zeichensprache überbrückten die Sprachbarriere. Sie wollte, daß ich mit ihr zusammen gegen ihre Freunde, ein junges Franzosen-Pärchen, eine Runde spielte. Ich stimmte gerne zu, yes...äh... oui, denn sie machten alle drei einen sympathischen Eindruck. Ich wollte höflich sein und stellte mich jedem von ihnen per Handschlag vor, worauf sie etwas komisch guckten, wahrscheinlich weil man sich in Frankreich immer gleich mit Küsschen hier und Küsschen da begrüßt, was ich mich dann doch nicht traute. Sie sagten mir ihre Namen, die ich vor Nervosität sofort wieder vergaß; der Junge hieß Sebastian, glaube ich. Wir begannen zu spielen, und ich merkte ziemlich schnell, daß es in Frankreich wohl einige Sonderregelungen für Pool geben muß (wenn man die weisse Kugel versenkt oder ein Foul begeht darf der Gegner zweimal direkt hintereinander stossen), aber ich tat so, als hätte ich nie anders gespielt; sie waren in der Überzahl. Alle drei waren sehr nett und freundlich zu mir, und ich versuchte es ebenfalls zu sein, was mir durch das Sprachproblem leichter gemacht wurde, denn es hätte ja überhaupt keinen Sinn gemacht einen Smalltalk zu beginnen. Daß ich aus Deutschland stamme haben sie spätestens gemerkt, als ich bei meinem dritten Stoss äußerst unglücklich und viel zu früh die schwarze 8 versenkte und mir ein Verfluchte Scheiße! nicht verkneifen konnte. Eine kurz aufflammende Hoffnung, daß die französischen Regeln bezüglich der schwarzen 8 eventuell gnädig sein könnten verlosch, als meine Partnerin ihren Queue auf den Tisch knallte und ihre Augen vorwurfsvoll in meine Richtung verdrehte. Gut, das war nicht gerade eine Meisterleistung meinerseits, ich hatte eben Pech, was soll's?!, cest la vie!, neues spiel, neues glück, ich legte das Dreieck für einen neuen Aufbau auf den Tisch. Ich war gerade damit fertig, als meine Partnerin mich am Arm ein Stück zur Seite zog. Sie sagte irgendetwas auf französisch, was ich nicht verstand, dann tippte sie mir mit ihrem Zeigefinger auf die Brust, bewegte ihn anschliessend dreimal von links nach rechts vor meinem Gesicht, you...no...play!, he...play!, und zeigte auf einen Jungen, der sich gerade an der Wand einen Queue aussuchte. Sie versuchte mir noch zu erklären, daß dieser Junge ein Freund von ihr sein,he...friend!, good friend!, und bla, bla, bla, auf jeden Fall war er Franzose und ich abserviert, au revoir, leckt mich doch einfach am Arsch. Was ist das nur mit diesen Franzosen? Fast hätten sie es geschafft, daß ich meinen schlechten ersten Eindruck als Ausrutscher betrachtet hätte, aber nein, am Ende sind sie meinen frisch gewachsenen Vorurteilen treu geblieben. Das mit der schwarzen 8 war doch keine Absicht gewesen, das kann jedem einmal passieren, ich hätte eine zweite Chance verdient gehabt, oder sie hätten so tun können, als wollten sie überhaupt nicht mehr spielen, anstatt mich einfach wegen eines einzigen Faux-Pas auszutauschen; schließlich ging es hier nicht um den Einzug ins Finale der Australian Open im Pool-Doppel, n'est pas?.

Ich bin danach nicht mehr lange geblieben, ich war zu depremiert, einmal mehr enttäuscht von der Menschheit und dem Leben schlechthin, Weltschmerz, die Art bei der ich am liebsten schwarz tragen und mich mit Morissey am Ecktisch einer dunklen Keller-Kneipe betrinken würde. Hier trägt niemand schwarz, ich habe noch niemanden in schwarzer Kleidung gesehen, hier trägt man hell und bunt, fröhliche Farben für fröhliche Menschen. Wo sind die traurigen Menschen in dieser Stadt, die gebrochenen Herzen, die Einsamen, die manisch Depressiven, die Melancholiker, es kann nicht nur lebensfrohe Lächler hier geben, das kann nicht sein. Wahrscheinlich schließen sie sich zu Hause ein. Melancholiker gehen im Allgemeinen selten aus und fahren erst recht nicht in den Urlaub, jedenfalls nicht nach Australien, zuviel Sonne, zu hell, zu warm, das ist tödlich für jede Melancholie, Morissey würde es hier bestimmt nicht gefallen, no melancholy, please!, you're entering australia: please be sure to leave all your sadness at the customs!, wann kommt endlich jemand mit einem Bus und erlöst mich?

 

Ebenfalls dem Tempo zum Opfer fiel Lukas’ Busfahrt von Cairns nach Darwin, die ursprünglich sehr ausführlich geplant war. Im Buch käme diese Szene quasi zwischen den Seiten 101 und 102.

 

Mt. Isa, Sonntag, 7:40

Seit siebzehn Stunden bin ich jetzt unterwegs. Erst fünf Stunden nach Townsville, eine Stunde Aufenthalt, mit Raucherlaubnis im Busbahnhof, und dann elf Stunden durch die Nacht bis nach Mt. Isa, Aufenthalt bis 18:30, volle zehn Stunden in dieser Geisterstadt, an einem Sonntag! Hier liegt wirklich der Hund begraben, oder die gesamte Menschheit, die Straßen sind tot, alles scheint hier tot zu sein, vielleicht ist es aber auch schlichtweg zu früh für einen Sonntagmorgen. John hat mich tatsächlich höchstpersönlich zur Bus-Station gebracht, have a nice trip, lucas!, get out and see something!, good luck, lucas!, if you come back, i'll have a room for you!, bye!, ich konnte seine Hände nicht sehen, ich wette er hatte seine Finger gekreuzt und stumm zu Gott gefleht, daß ich nie wieder zurück komme; hoffentlich gibt es in Darwin auch einen John. Ich gab dann gleich mein Gepäck auf und erkundigte mich, ob ich mich im Laufe der Fahrt noch darum kümmern müßte, beim Umsteigen in Townsville z.B., aber die McCafferty-Uniform versicherte mir, daß das nicht nötig wäre, you just pick it up at darwin, sehr erleichternd, in jeder Beziehung, thank you, very much. Um viertel vor zwei war der Bus bereit to be boarded, erbitterte Kämpfe um die besten Plätze waren durch festgelegte Sitznummern auf den Tickets gottseidank unnötig; die überflüssigsten Faustkämpfe in der Welt werden über Fenster-plätze oder ähnliche Ego-elementare Nichtigkeiten geführt. Meine Sitznummer führte mich in den hinteren Teil des Busses, Fahrerseite, ich machte es mir gemütlich und hoffte, der Sitz neben mir würde frei bleiben, nicht aus Angst mich unterhalten zu müssen, sondern wegen meiner Beine. Der Bus war zwar einigermaßen komfortabel, es gab ein Klo, einen Fernseher und Armlehnen für alle, aber meine Beine waren doch zu lang, um sie unbehindert nach vorne ausstrecken zu können, was sie ab und zu einfach brauchen um nicht abzusterben. Der Bus füllte sich stetig, Pärchen, Grüppchen, Solisten, Touristen, Einheimische, eine typische Mischung für einen Linien-Bus, obwohl die Linien in Australien erheblich länger sind; Pendler dürften kein leichtes Leben haben hier. Niemand setzte sich neben mich, obwohl nur noch wenige Plätze frei waren, nur noch vereinzelt betraten neue Passagiere den Bus, jeder von ihnen eine Lotterie, die ich nicht gewinnen wollte, da hinten ist noch einer frei!, sagte ich stumm zu einer alten, hustenden Frau, da links ist noch einer!, zu einem AC/DC-T-Shirt, und sie hörten auf mich. Ich war nahe daran an Telepathie zu glauben, als dieser mächtige Bier-bauch den Gang entlang kam, zwei reihen hinter mir, ein fensterplatz!, und mich eines besseren belehrte. Er verstaute eine Four X-Plastiktüte in dem Netz über seinem Sitz und plumpste neben mich,hey, mate!, eine heftig flatternde Bierfahne herüber grinsend. Ich wartete auf eine aus der Decke fallende Sauerstoffmaske, vergeblich, also hi!te ich ihn und nahm mir vor die nächsten fünf Stunden bis zum nächsten Halt nicht einzuatmen. Er stank wirklich abartig, ich meine, er roch nicht nur ein bisschen streng, wie etwa eine Woche getragene Polyester-Socken, kein Vergleich, er war Fleisch gewordener Gestank, der Inhalt eines Schlachthof-Müllcontainers, in Schweiss und Bier eingelegt an einem 40 Grad heissen Sommertag, und was noch schlimmer war: Dieser Gestank war von der redseligen Art! Bauarbeiter wäre er, construction worker, ya know?, und sehr über die Arbeitsmoral seiner Landleute besorgt, fucking lazy bastards, australians, ya know?, die besten Arbeiter seien allesamt Ausländer, europeans, great workers, know their job, germans, skandinavians, ya know?, ja, ja, die Baubranche und ihre Tücken, schon immer eines meiner Lieblingsthemen! Trotzdem, ich hatte ihn sowieso am Hals und vor allem in der Nase, also versuchte ich mitzureden, ihm meine Ansichten zur internationalen Lage des Bauwesens darzulegen, doch das stellte sich als ein schier aussichtsloses Unterfangen heraus. Wenn ich einmal dazu kam etwas zu sagen, wohl formuliert und beinahe akzentfrei, verstand er jedesmal genau das Gegenteil, und ich mußte meinen ursprünglichen Standpunkt in Sekundenschnelle ändern, um überhaupt im Gespräch zu bleiben. Nach zwei Stunden war das Thema für ihn endlich abgehandelt und er schlief ein, leider ohne dabei mit dem Stinken aufzuhören. Die restliche Zeit bis Townsville sah ich mir den Film an, den der Busfahrer eingelegt hatte, ein Baseball-Film mit Tom Selleck, Baseball ist so langweilig, die spinnen, die Amis!

Mein stinkender Bauarbeiter blieb gottseidank in Townsville, und ich hatte den Rest der Fahrt zwei Sitze für mich und meine Beine. Wir fuhren stundenlang durchs Nichts, Outback genannt, kaum Vegetation, die Straße eine endlose graue Gerade direkt in den Himmel, 360 Grad reiner Horizont und als es dunkel wurde das größte Planetarium des Erdballs. Der Bus hielt dreimal an, mitten im Nirgendwo, um Passagiere aufzunehmen, von denen ich mir nicht erklären konnte, wie sie dorthin gekommen waren, oder was um alles in der Welt sie dort getan haben könnten, bevor der Bus kam. Ich nutzte diese kurzen Stopps um mir rauchend ein bisschen die Beine zu vertreten, entfernte mich ein paar Schritte vom Bus und den anderen Rauchern und starrte in den Himmel, in diese unendliche Sternenpracht, heller und prächtiger als alle Himmel Europas zusammen, der weltraum, unendliche weiten..., so viele Lichter, deren Quellen längst versiegt sind, und ich, dort unten, so klein, so bedeutungslos, so Nichts in Anbetracht des Ganzen, eine Träne im Ozean des Universums auf der Suche nach ihrem Dasein stand ich dort und die Last der Welt fiel mir wie ein Sandkorn von den Schultern, was bin ich denn schon?, was bedeutet schon mein einziges, kleines Leben?, danke, daß ich hier sein und das alles atmen darf!, das Dasein an sich ist ein viel zu selten auftretender Zauberer, c'mon, mate!, we're leaving!, zurück in ein voller Nichts nach Nichts fahrendes Nichts. Die elf Stunden Fahrt verliefen ansonsten ereignislos, ich hatte es mir schlimmer vorgestellt, länger irgendwie, die Zeit verging unauffällig schnell. Der Busfahrer hatte noch zwei weitere Baseball-Filme auf Lager - einen mit Kevin Costner, den anderen habe ich schon wieder verdrängt - , und die Film-lose Zeit habe ich mit Odysseus oder dem Versuch zu schlafen verbracht. Ich hätte nicht gedacht, daß das Schlafen in einem Bus derartige Kopfschmerzen nach sich zieht. Einmal, als mein Schädel zum tausendsten Mal gegen die Fensterscheibe schlug und ich deswegen aufwachte, sah ich am Straßenrand drei Känguruhs vorbeihuschen, wobei es allerdings nur der Bus war, der huschte. Sie waren nicht sehr groß - größer als Dackel, schon -, sie waren auch nicht bunt, sie waren nur tot, von Linien-Bussen und deren Artgenossen über-rollt, zermatscht und liegengelassen, Bruder You hatte mich darauf vorbereitet, they're every-where, fucking bus-drivers, they don't care, nobody gives a fuck about those poor creatures, it's a fucking shame, das war es wirklich, die größten Werbeträger Australiens achtlos im Straßenstaub verrotten zu lassen; wenn man in Deutschland einen Bayrische Lederhosen-Bierbauch mit einem Hofbräuhaus-Bierkrug in der Hand überfahren und einfach liegenlassen würde, käme man mit Sicherheit nicht ungeschoren davon - auf jeden Fall dürfte man nie wieder einen Bus fahren. Wenigstens beerdigen könnte sie jemand, in Mt. Isa, zum Beispiel, an einem Sonntag wie heute, ein Friedhof wäre eine Party gegen das, was hier los ist.

Ich weiß nicht, wo all die anderen Passagiere hingegangen sind. Einen kleinen Rundgang durch Mt. Einsam habe ich bereits hinter mir, es gab nichts, wo man hätte einkehren können, alle Läden waren geschlossen, der eine Pub, den es gab auch, wo sind die bloß alle hin? Ich sitze hier an diesem Busbahnhof mit Aussicht auf eine häßliche Industrieanlage, eine Kupfermine, vermute ich, dem roten Sandberg mir gegenüber zufolge. Ab und zu donnert einer dieser riesigen Trucks an mir vorbei und zerreisst die Totenstille von links nach rechts, paß' gefälligst auf die känguruhs auf, du arschloch!, die Könige der Straße, vive la révolution!, ich möchte nicht wissen wieviel Skippy-Blut er schon von seinem Chrom-Kühler kratzen mußte.

Ich habe Hunger. Woher soll ich hier bloß etwas zu essen herkriegen? Die letzte feste Nahrung habe ich in Townsville zu mir genommen, Fish & Chips, das war gestern Abend um sieben, zu lange her, selbst für mich. Ich werde mich noch einmal auf die Suche nach Leben in dieser Totenstadt machen, dieses Mal gehe ich eben nach rechts, da war ich noch nicht, es sieht allerdings auch nicht so aus, als ob jemals jemand dort gewesen wäre, egal, follow the yellow brick road!, nein, die gibt es hier bestimmt nicht, we're on the road to nowhere!, das trifft wohl eher zu. Und das an einem Sonntag!

 

Mt. Isa, Sonntag, 13:30

Fünf Stunden noch! Ich sitze wieder an diesem dämlichen Bahnhof und starre auf diese gräßliche Kupfermine. Mt. Isa ist immer noch tot, obwohl mittlerweile wenigstens einige Läden geöffnet haben. Ich habe einen Book-Shop entdeckt und mich anderthalb Stunden darin herumgedrückt. Es gibt einen neuen Easton Ellis, The Informers, ansonsten habe ich nichts gekauft. Danach habe ich ein Museum entdeckt, Naturkunde, Fossilien und andere Felsbrocken,closed on sundays, wie unsinnig, wer hat schon wochentags Zeit in ein Museum zu gehen! Den krönenden Abschluß meines zweiten Ausflugs in die Grabstätten von Mt. Isa lieferte mir der Pub, an dem ich heute morgen bereits vorbeigelaufen war. Ich sah einen Einheimischen dort hineinschlurfen, kurz darauf zwei weitere - drei genügten um sicher-zugehen, daß auch wirklich geöffnet war -, ich öffnete die Tür und ging hinein, erleichtert einen Ort gefunden zu haben, an dem ich etwas essen, trinken und die restliche Zeit totschlagen könnte, einen Ort mit einer gemütlichen Theke und einem dicken John und einem Flipper und einem Pool-Tisch und einem Rugby-Fernseher und einem Schild mit der Aufschrift Welcome! Club Members and Guest Only!, wie bitte?, was war das?, was für ein Club?, der Club der toten Nester?, die Mt. Isa- Zombies e.V.? wie lautet ihr Motto? We're Dead And Proud, So Please Stay Out?, was mußte man tun, um Mitglied zu werden?, etwa nach Mt. Isa ziehen?, nein danke, thank you very much, ohne mich, eher höre ich mit dem Rauchen auf und heirate die australische Regierung, i'm outta here!, ein Club-Pub!, die spinnen, die Mt. Isaer!

Gegessen habe ich immer noch nichts, mein Magen bildet langsam ein schmerzhaftes Vakuum, außerdem ist es arschkalt hier, 10 Grad vielleicht, ich werde verhungert erfrieren, vielleicht darf ich ja dann in den Club-Pub, das ist einfach nicht mein Tag. Heute Morgen im Bus spürte ich plötzlich dieses leichte Brennen auf meiner Oberlippe, ich wußte sofort, was los war, irgendetwas hatte die Herpes-Zündschnur entfacht, und ich konnte nur noch beten, daß die Explosion nicht allzu heftig ausfallen würde. Mittlerweile machen es sich ungefähr 12 kleine Bläschen auf meiner Lippe gemütlich, ich sehe aus wie ein Bakteriologe nach einem Selbst-versuch, es ist zum Kotzen, womit habe ich das bloß verdient? Nicht, daß ich so schon genug Schwierigkeiten hätte, jemanden kennenzulernen, nein, jetzt sehe ich auch noch aus wie ein wandelnder Seuchenherd, prima!, niemand ist bei fremden Menschen so beliebt wie ein schüchterner Aussätziger, sie werden sich um mich reissen in Darwin!, hoffentlich nimmt mich in diesem Zustand überhaupt ein Backpackers auf, hi, i'm lucas!, i'm a Very Infected Person and i need a room for..., piss off, pizza-face!, ich sehe mich schon am Strand schlafen.

Eines steht jedenfalls fest: Egal , was es kostet, den Rückweg an die Ostküste werde ich in einem Flugzeug verbringen, dieses Mt. Isa sehe ich mir kein zweites Mal an, nicht für fünf Minuten, thank you, very much!, ich bin bedient.

Noch über 4 1/2 Stunden Busbahnhof und Kupfer-Zeche! Ich wünschte, es wäre Nacht und die australische Regierung käme!

Eben kommt gerade einer meiner Mit-Passagiere von wo auch immer zurück, weiblich, ca. 25, orientalisches Gesicht, westliche Kleidung, sie setzt sich neben mich, nein, doch nicht, eine Bank weiter, Scheiß-Herpes!, sie sieht nett aus, ein freundliches Gesicht, beim Einsteigen in Townsville hat sie mich angelächelt, sie holt etwas aus ihrem Rucksack, ein Buch, ich kann den Titel nicht erkennen, jetzt kramt sie in ihrer Jackentasche, ein Mars!, Riesengröße!, und eine Dose Cola!, das muß sie hier gekauft haben, in Mt. Isa, ob ich sie frage, wo?, vielleicht läßt sie mich von ihrem Mars abbeissen, nein, Scheiß-Herpes!, verflucht, ich will auch ein Riesen-Mars und eine Cola, ich brauche jetzt unbedingt ein Riesen-Mars und eine Cola, sofort, sie sieht wirklich sehr nett aus, ich frage sie!, ob sie englisch kann?, verdammt, was steht auf dem Buch?, ist es ein englisches Buch?, jetzt hat sie es mit dem Rücken auf ihre Beine gelegt!, jetzt wickelt sie ihr angebissenes Riesen-Mars wieder in die Verpackung!, wenn sie es wegwirft, hole ich es mir!, nein, sie steckt es in ihre Jacke, ich muß sie fragen!, was frage ich sie?, ich kann sie nicht fragen, sie liest gerade so schön, ich werde verhungern, im australischen mt. isa starb heute ein schüchterner aussätziger an der unfähigkeit eine freundliche, junge frau nach den logistischen möglichkeiten zum käuflichen erwerb eines schoko-riegels zu fragen, Ende der Durchsage.

 

Es gab dann noch einige kleine Sachen, die es nicht ins Buch geschafft haben, aber nicht so wichtig sind, dass ich sie hier aufführen müsste.

 


 

 

OHRENSAUSEN

 

 

 

 

 

Der erste Titel, seit "Der Junge Sonnenschein", der tatsächlich von mir ist. Nach meinen letzten Titel-Erfahrungen dachte ich, meiner wird ja sowieso nicht genommen, also warum soll ich mir großartig den Kopf zerbrechen? Also dachte ich ganz kurz nach und nannte es einfach "Ohrensausen", in der Annahme, dass es, wie bei den beiden Büchern zuvor, nicht dabei bleiben würde. Tja, falsch gedacht, denn der Verlag fand den Titel von Anfang an gut, und jetzt heißt es eben so. Normalerweise stehen im Writers Cut die Szenen, die komplett heraus genommen wurden. Das ist bei "Ohrensausen" ein bisschen anders, denn es wurde eigentlich keine Szene entfernt; es wurden nur Szenen geändert, allerdings in zwei Fällen schon so stark geändert, dass ich sie hier gerne aufführen möchte.

 

Die erste Szene ist die in der Schule mit den Durchsagen des Direktors (Seite 165 im Buch). Entscheidend anders ist hier, dass Vinnie ihm nicht das Auto zerkratzt hat, sondern ... Aber lest selbst:

 

"Fünf Aufgaben, neunzig Minuten Zeit, keine Minute länger, meine Damen und Herren. Das Blatt wird erst umgedreht, wenn ich es sage, Kleinschmidt."

"Warum? Stehen jetzt noch die Antworten drauf?"

"Sehr witzig, Kleinschmidt. Wenn sie heute versagen bleibt ihnen immer noch eine Karriere als Komiker."

"Aber Herr Knipfer! Ich würde ihnen doch nie den Job wegnehmen!"

"Ja, ja, genug gelacht, Kleinschmidt. Hat jeder ein Blatt? Dann drehen sie es bitte jetzt um. Falls irgendetwas unklar ist, kommen sie bitte leise zu mir nach vorne und fragen mich. An die Arbeit!"

Okay, los geht's, konzentrier dich, Danny. Ich lese mir die Aufgaben durch. Vier davon scheinen lösbar, mit der fünften kann ich auf den ersten Blick null anfangen. Aber ich brauche ja schließlich nur fünf Punkte, also tue ich einfach so, als gäbe es nur vier Aufgaben. Du schaffst das, Danny, kein Problem.

"ACHTUNG, ACHTUNG! ES FOLGT EINE WICHTIGE DURCHSAGE AN ALLE SCHÜLER!" 

Oh, Mann, muss das jetzt sein? Ich versuche hier gerade mein Abi zu retten, verdammt! Das ist die Sandmann aus dem Sekretariat, und sie klingt wie Darth Vader nach drei Päckchen Kippen. Die Lautsprecheranlage hier hat wahrscheinlich Edison persönlich noch eingebaut.

"HERR DIREKTOR?"

"JA, WAS DENN?"

"IHRE DURCHSAGE!"

"ACH SO, JA, GEBEN SIE HER."

Der auch noch. Na klasse.

"ALSO, JETZT HÖRT MIR MAL GUT ZU, IHR DRECKSCHWEINE! WENN ..."

Ein Rauschen, ein Knacken, jemand versucht ihm das Mikro wegzunehmen.

"ABER, HERR DIREKTOR! SIE KÖNNEN DOCH NICHT ..."

"UND OB ICH KANN, SANDMÄNNCHEN! JETZT LASSEN SIE DOCH DIESES DING ENDLICH LOS!"

Ein dumpfes Poltern, ein grelles Fiepen.

"NA ALSO! HALLO? IST DAS NOCH AN? KANN MICH DIESES ASOZIALE PACK DA DRAUßEN NOCH HÖREN, SANDMÄNNCHEN? JA? SEHR GUT! HALLO? AUFGEPASST, DA DRAUßEN! MEINE WERKSTATT HAT MICH GERADE ANGERUFEN, UND EINER VON EUCH MISTSCHWEINEN HAT MIR IN DEN KOFFERRAUM GESCH...MPH ...MPH ..."

Jemand hält ihm den Mund zu, und ich muss laut loslachen. Zum Glück bin ich nicht der einzige, die ganze Schule scheint zu grölen. Selbst Knipfer kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Vor dem Mikro scheint ein Ringkampf stattzufinden, es poltert und klappert und rumpelt.

"BERUHIGEN SIE SICH DOCH, HERR DIREKTOR! DIE ELTERN, UM GOTTES WILLEN! DENKEN SIE DOCH AN DIE ELTERN!" 

"MPH ... UNTERS RESERVERAD! DIESE VERLOTTERTE DRECK ...MPH ..."

"WENN SIE SICH NICHT SOFORT IN IHRER SPRACHE MÄSSIGEN, HERR DIREKTOR, DANN RUFE ICH IHRE FRAU AN!"

"MPH ... JETZT NEHMEN SIE DOCH MAL IHRE HÄNDE DA WEG! IST JA SCHON GUT! ICH BIN JA GANZ RUHIG! ... ICH KRIEGE DICH, DU SCHEISSKERL! DAS SCHWÖR ICH DIR! ICH LASSE EINEN DNS-TEST MACHEN, VON JEDEM EINZELNEN SCHÜLER! UND DANN BIST DU DRAN! HÖRST DU MICH, DU ..." 

Klick. Die Lautsprecher verstummen, das Lachen im Raum nicht. 

Vinnie, du gottverdammter Teufelskerl! Nicht, dass ich es gut finde, was er gemacht hat, echt nicht, das ist schon eklig. Aber allein dieses kurze Hörspiel war es wert, hundert pro. 

Knipfer steht vorne an seinem Pult und schüttelt, ein Grinsen hinter einer Hand versteckt, den Kopf.

"Und ich hatte mich heute morgen noch gefragt, warum er zu Fuß gekommen ist. ... Tut mir Leid, diese unplanmäßige und so gar nicht schulbezogene Unterbrechung. Wir hängen die fünf Minuten selbstverständlich am Ende dran. Versuchen sie sich bitte wieder auf die Mathematik zu konzentrieren."

Was ich die nächsten 45 Minuten auch ganz gut hinkriege. Die ersten drei Aufgaben verlaufen absolut nach Plan, Schritt für Schritt, und immer wieder habe ich Clarissas' Stimme im Ohr, die mir sagt, was als nächstes zu tun ist. Ich fange gerade mit der vierten Aufgabe an, als es aus dem Lautsprecher dreimal knackst. 

"ACHTUNG, ACHTUNG! EINE WICHTIGE DURCHSAGE AN ALLE SCHÜLER!"

Oh, klasse! Das Hörspiel wird bereits wiederholt! Oder gibt es etwa eine Fortsetzung?

"AUCH UND INSBESONDERE IM NAMEN DES HERRN DIREKTORS BEDAUERN WIR DEN RÜDEN TON DER LETZTEN DURCHSAGE ZUTIEFST. ES WAR NICHT DIE ABSICHT DES HERRN DIREKTORS DIE SCHÜLERSCHAFT AUF EINE DERMAßEN PAU ... PAUSCHL ... WAS HEIßT DAS HIER? ICH KANN DAS NICHT LESEN?"

"PAUSCHALISIERENDE, SANDMÄNNCHEN! PAUSCHALISIERENDE!"

"ACH JA! AUF EINE DERMAßEN PAUSCHALISIERENDE ART UND WEISE ZU BELEIDIGEN. ..."

"WEITER, SANDMÄNNCHEN!"

"JA, JA, MOMENTCHEN, NUR KEINE HETZE! ALSO: NICHTSDESTOTROTZ IST DER HERR DIRKETOR ZURECHT ÜBER DIE VERUNREINIGUNG SEINES AUTOMOBILS DURCH MENSCHLICHE FÄKALIEN ERBOST UND SEHR DARAN INTERESSIERT DEN VERURSACHER DINGFEST ZU MACHEN. FÜR HINWEISE AUF DEN TÄTER STELLT DER HERR DIREKTOR DESHALB EINE GROßZÜGIGE BELOHNUNG VON FÜNFZIG DM ZUR VERFÜGUNG. DIE HINWEISE WERDEN SELBSTVERSTÄNDLICH ANONYM BEHANDELT. DANKE FÜR IHRE AUFMERKSAMKEIT. ENDE DER DURCHSAGE."

"SEHR GUT, SANDMÄNNCHEN. DAMIT KRIEGEN WIR DIESES DRECKSCHWEIN BESTIMMT! DIESER VERFLUCHTE MISTKERL HAT ..."

"SCHT! HERR DIREKTOR! DAS MIKROFON IST NOCH AN!"

"WAS? ABER SIE HABEN DOCH ENDE DER DURCHSAGE GESAGT!"

"JA, ABER ..."

"NIX ABER! JETZT SCHALTEN SIE DOCH ENDLICH DIESES VERDAMMTE DING AUS! DAS IST JA NICHT ..." Klick.

Zu köstlich, diese zwei. Sie sollten ein Duo gründen und Eintritt verlangen. Der Direktor und das Sandmännchen, die neue deutsche Hoffnung am Comedy-Himmel. Ich bin jedenfalls dafür, dass es in Zukunft jede Stunde mindestens eine Durchsage gibt.

Fünfzig Mark? Dieser Idiot wird nie rausfinden, wer ihm dieses Ei in den Kofferraum gelegt hat, soviel steht fest. 

"Ich hoffe sehr, dass das jetzt die letzte Störung war." sagt Knipfer. "Wir hängen dann noch mal fünf Minuten dran."

Ich mache mich an die vierte Aufgabe, bei der ich mir nicht ganz sicher bin, ob ich den richtigen Weg einschlage, aber ich komme zu einer Lösung, von der ich einfach mal hoffe, dass sie korrekt ist. 

Noch zwanzig Minuten Zeit, die fünfte Aufgabe. Ich lese sie mir wieder und wieder durch, finde aber keinen Ansatzpunkt. Ach, was soll's! Es wird auch ohne für fünf Punkte reichen. Ich packe meine Sachen zusammen, ziehe meine Jacke an und gehe nach vorne zu Knipfer ans Pult. 

"Sie wollen schon abgeben, Kleinschmidt? An ihrer Stelle würde ich jede Minute nützen. Sie wissen doch, was hier auf dem Spiel steht."

"Ich bin fertig, also gebe ich ab. Soll ich hier noch zwanzig Minuten rumsitzen und Däumchen drehen?"

Er nimmt meine Klausur und überfliegt sie.

"Hmmm ... Was ist mit Aufgabe Nummer fünf?"

"Reicht es nicht, wenn der Rest richtig ist?"

"Wenn der Rest stimmt, sollte das reichen."

"Na also. Kann ich dann gehen?"

"Ja, von mir aus."

"Gut."

Ich verlasse den Raum mit dem sicheren und guten Gefühl, alles gegeben zu haben. Wenn das keine fünf Punkte waren, dann weiß ich auch nicht.

 

Ja, so war das ursprünglich. Aber der Verlag meinte, das wäre zu krass, diese ganzen Fäkalien wären doch nun wirklich nicht nötig, und so weiter. Ich dachte einfach, er müsste etwas wirklich hartes bringen, so dass der Direktor richtig austickt, deswegen Vinnies' Fäkalien im Kofferraum. Ich habe es dann letztlich so gedreht, dass der Direktor diese Vorgeschichte mit seinem geliebten Auto hat, so dass das Ausrasten seinerseits nachvollziehbar bleibt.

Dementsprechend ändert sich natürlich auch das Gespräch zwischen Danny und dem Direx kurze Zeit später (Seite 175 im Buch).

 

Ich laufe den Flur entlang in Richtung Ausgang, als plötzlich jemand meinen Namen ruft.

"Kleinschmidt!"

Na klasse, der Direx. Der hat mir gerade noch gefehlt.

"Kleinschmidt! Stehengeblieben!"

Ich tue ihm den Gefallen.

"Herr Direktor! Was verschafft mir die Ehre? Kann ich ihnen irgendwie behilflich sein?"

"Ach, tun sie nicht so freundlich, Kleinschmidt! Wo waren sie Sonntag Abend?"

"Sonntag Abend? Hmm, da muss ich nachdenken ... Wieso?"

"Sie wissen genau, wieso!"

"Die unangenehme Sache mit ihrem Auto etwa? Ist das am Sonntag passiert? Eklige Angelegenheit, kann ich mir vorstellen."

"Es muss am Sonntag passiert sein, Montag morgen hat es jedenfalls gestunken. Also, wo waren sie, Kleinschmidt?"

"Aber sie glauben doch wohl nicht, dass ich etwas damit zu tun haben könnte? Herr Direktor, also wirklich! Ich erledige meine Notdurft immer noch auf der Toilette."

"Wo sie am Sonntag Abend waren, will ich wissen, Kleinschmidt!"

"Wird das jetzt so eine Situation, wo alles was ich sage, gegen mich verwendet werden kann? Dann habe ich einen Anruf frei, oder? Können sie mir einen guten Anwalt empfehlen?"

"Schluss mit den Spielchen, Kleinschmidt! Sie und ihre Kumpane wurden am Sonntag Abend in der Stadt gesehen."

"Aber dann wissen sie ja bereits, wo ich war. Ich war in der Stadt. Damit wäre ihre Frage wohl beantwortet. Ich kann nur hoffen, sie haben für diese Information nicht die ganzen fünfzig Mark rausgehauen. War's das dann?"

"Ganz und gar nicht, Kleinschmidt, das war's noch lange nicht! Was hatten sie in der Stadt zu suchen?"

"Jedenfalls keine Toilette, Herr Direktor, das kann ich ihnen versichern."

"Antworten sie mir gefälligst, Kleinschmidt!"

"Nicht, dass sie das etwas angehen würde, aber wir haben Plakate für unser Konzert aufgehängt. Ist das strafbar? Müssen wir jetzt ins Gefängnis?"

"Aha! Plakate aufgehängt, also! Und warum hängt dann bei mir in der Straße nicht ein einziges von diesen Plakaten?"

"Keine Ahnung. Wo wohnen sie denn?"

"Sie wissen ganz genau, wo ich wohne, Kleinschmidt! Ich wohne in dem Haus, vor dem mein Auto am Sonntag Abend gestanden hat!"

"Aha, ja, klingt durchaus logisch. Aber da ich ihr Auto am Sonntag Abend nicht gesehen habe, weiß ich immer noch nicht, wo sie wohnen."

"Ach, kommen sie, Kleinschmidt! Es ist ja wohl allgemein bekannt, dass meine Familie seit 1950 ihr Haus in der Waldstraße hat! Jetzt tun sie nicht so, als ob sie das nicht wüssten!"

"Waldstraße? Aha. Das erklärt natürlich, warum dort keine Plakate von uns hängen. Wir waren gar nicht in dieser Gegend. Das ist nicht gerade unser Zielpublikum, wissen sie? Zu viele Schnösel, wenn sie verstehen, was ich meine."

"Warum glaube ich ihnen bloß nicht, Kleinschmidt?"

"Tja, das wüsste ich nun wirklich auch gerne. Vielleicht gefällt ihnen mein Gesicht einfach nicht? Könnte es eventuell daran liegen?"

"Herr Direktor? Wir wären dann soweit." ruft jemand vom Eingang der Cafta aus.

"Ja, ja, ich komme gleich! ... Ich kriege sie noch, Kleinschmidt! Das verspreche ich ihnen! Und wenn sie es nicht selbst waren, dann war es einer der anderen Nichtsnutze! Aber das kriege ich schon noch raus, verlassen sie sich drauf!"

"Musiker, Herr Direktor."

"Was?"

"Wir sind Musiker, keine Nichtsnutze, nur um das kurz klarzustellen."

"Musiker? Das ich nicht lache! Asoziales Gesindel, das ist alles, was mir zu ihnen und ihresgleichen einfällt! Und sie werden es nie zu etwas bringen, keiner von ihnen. Sie sind und werden nie mehr sein, als der Schmutz unter den Fingernägeln der Gesellschaft."

"Oder die Scheiße in ihrem Kofferraum."

"Sie ... Sie ..."

Das reicht. Er steht vor mir, den Mund geöffnet, knallroter Kopf, und er sieht so aus, als würde er mir gleich an die Gurgel springen. Ich drehe mich einfach um und laufe langsam los in Richtung Ausgang. 

"Kleinschmidt! Ich bin noch nicht fertig mit ihnen!" brüllt er mir hinterher, und ich fange laut an zu lachen.

Dieses Riesenarschloch. Und vorhin während der Durchsage hatte ich sogar noch ein bisschen Mitleid mit ihm, ich Idiot. Er hat nichts in der Hand, außer, dass er mich aus irgendeinem persönlichen Gefühl heraus nicht leiden kann. Und das reicht ihm schon für ein Urteil. Ich hätte ihm niemals in seinen Kofferraum geschissen, ich wäre noch nicht mal auf die Idee gekommen, aber er traut es mir so ohne weiteres zu, weil ihm mein Gesicht nicht passt oder was weiß ich auch immer. Was soll das? Auch wenn er mit seinem Verdacht in unsere Richtung nicht gerade falsch liegt, hat er doch nicht das Recht uns alle als asoziales Gesindel abzutun, oder? Wenn ich gewusst hätte, was Vinnie vorhatte, hätte ich ihn davon abgehalten, aber hundert pro. Ich bin nicht Vinnie, und ich bin auch nicht dafür verantwortlich, was Vinnie tut. Von wegen asozial und so. Der größte Schmutz unter den Fingernägeln der Gesellschaft trägt allzu oft einen beschlipsten Anzug und einen Titel.

So, jetzt muss ich aber schnell nach Hause, denn dort wartet meine asoziale Mutter mit dem asozialen Essen auf ihren asozialen Nichtsnutz von Sohn. Und heute Abend muss ich unbedingt meinen asozialen Vater fragen, ob wir nicht in die Waldstraße ziehen können.

 

Die zweite Sache, die grundlegend verändert wurde, sind die Vorkommnisse während des Auftritts, was indirekt auch etwas damit zu tun hat, dass Vinnie dem Direx ursprünglich nicht bloß das Auto zerkratzt hat. Ich wollte den Direx so richtig durchgeknallt darstellen, und er sollte gegen Ende noch einen großen Auftritt haben, aber das hätte nach den vorherigen Änderungen nicht mehr gepasst, also ließ ich ihn dort dann komplett raus. Hinzu kommt, dass die folgende Szene (Buch Seite 245) im Nachhinein vielleicht doch etwas zu viel Slapstick gewesen wäre. In einem Film hätte das wunderbar funktioniert, im Buch wahrscheinlich nicht.

 

"Im nächsten Song geht es um eine Gruppe von Leuten, die ihr sicher alle kennt." beginnt Vinnie seine Ansage. "Ihr wisst schon, das sind die, die nichts anziehen, wo nicht der Name irgendeiner Designer-Schwuchtel draufsteht."

"Models!" grölt irgendjemand aus dem Publikum.

"Nein, nicht die! Hättest du wohl gerne, was? Nein, es geht um diese Art von Leuten, die glauben, sie wären etwas besseres, nur weil sie Kohle haben! Oder Macht!"

"Scheiß-Politiker!" grölt dieselbe Stimme.

"Fast! Hey, du bis ja lernfähig! Einen kleinen Applaus für unsere Intelligenzbestie da unten!"

Johlen und Pfeifen und Gelächter.

"Politiker, Bonzen, Geldsäcke, in einem Wort: Schnösel! Und so heißt auch unser nächstes Lied, das ich hiermit von ganzem Herzen unserem Direx widme! Hau rein, Danny!"

Schreibt's an alle Wände!

Sprüht's an jedes Haus!

Dem Schnöselpack ein Ende!

Die Schnösel müssen raus!

Lasst uns darauf trinken!

Kommt, stimmt alle ein!

Wir kacken euch in'n Kofferraum!

Wir werden Sieger sein!

Wie war das? Das habe ich aber nicht gesungen. Das Schnöselschiff wird sinken, so geht das doch eigentlich. Vinnie, du bist so ein Aso! Wie lange er das wohl schon geplant hatte? Ich glaube nicht, dass das spontan kam, so was hat er nicht drauf. Aber es erzielt seine Wirkung, das halbe Publikum lacht sich kaputt und auch Mark und Robbie stehen plötzlich mit dem Rücken zu den Zuschauern und kichern in ihre Verstärker. Christopher schüttelt nur abfällig den Kopf und spielt weiter, wie wir alle. Was ist das denn? Einer der Erwachsenen, die ich nicht kenne, hat die Ecke verlassen und arbeitet sich energisch durch die Menge in unsere Richtung vor. Irgendetwas an ihm kommt mir doch bekannt vor, aber ich kann es nicht einordnen. Der schwarze Schnurbart stört. Ohne diesen Schnurbart und ohne diese komische Frisur würde er aussehen wie ... nein, ich komm einfach nicht drauf, verdammt. Er hat jetzt den Bühnenrand erreicht, und er brüllt uns irgendetwas zu, was natürlich keiner hier oben verstehen kann. Er sieht irgendwie wütend aus. Ich kenne dieses Gesicht, verdammt! Was macht er denn jetzt? Er wird doch nicht ... Tatsache! Er klettert auf die Bühne! Der Direx! Ich brech' gleich zusammen! Das ist der Direx mit falschem Schnurbart und schwarzer Perücke! Und er steuert direkt auf Vinnie zu, der ihn jetzt auch erkennt und anfängt zu lachen, mitten in der Strophe. Wir spielen einfach weiter, so als gehörte diese kleine Einlage zur Show.

"Ladies and Gentlemen!" ruft Vinnie ins Mikro. "Einen herzlichen Applaus für unseren Ehrengast heute Abend! Wir kennen ..." 

Der Direx versucht ihm das Mikro abzunehmen, aber Vinnie weicht geschickt aus.

"Wir kennen ihn alle als den Partylöwen und Modeguru von München! Unser lieber Freund und Kollege, der Rudolf, der Mosi, der Mooshamer! Applaus, Applaus!"

Die Menge bricht in ein riesiges Pfeifkonzert aus, und der Direx wird immer wütender und jagt Vinnie kreuz und quer über die Bühne.

"Na, Mosi? Wo hast du denn Daisy gelassen? Im Kofferraum?"

Das reicht, ich kann nicht mehr, das ist zu göttlich. Ich breche lachend hinter meinem Schlagzeug zusammen, und die anderen hören auch auf zu spielen. 

Der Direx erwischt Vinnie am Arm und reißt ihm das Mikro aus der Hand. Vinnie revanchiert sich sofort, indem er ihm die Perücke vom Kopf schnappt und sich selbst aufsetzt.

"Euch wird das Lachen noch vergehen!" schreit der Direx ins Mikro und wendet sich zum Publikum. "Diese Veranstaltung ist hiermit beendet! Geht alle nach Hause! Ich habe bereits die Polizei verständigt, sie wird gleich hier sein und diesen Abschaum verhaften! Jetzt ist Schluss mit lustig!" 

Das scheint das Publikum aber anders zu sehen. Unter grölendem Gelächter fliegen ihm halbvolle Bierbecher und Müll entgegen.

"Und ihr seid alles meine Zeugen!" brüllt er weiter. "Dieser Dreckskerl hat öffentlich vor euch allen zugegeben, dass er es war, der mein Auto geschändet hat! Die Polizei wird eure Personalien nachher aufnehmen, alle!"

Unglaublich, dieser Mann. Eine bessere Show kann's nicht geben. Wir sollten ihn dafür bezahlen, eindeutig. 

"Ich wusste, ich kriege euch noch!" brüllt er in unsere Richtung. "Na, Kleinschmidt? Wo ist ihr großes Maul jetzt?"

Es klettert gerade hinter ihnen die Bühne hoch, und es hat einen Baseballschläger dabei. Neuroth. Er wird doch nicht ...? Nein, Kurt ist auch da, und er gibt Kai ein Zeichen, dass er das Mikro runterfahren soll. Die beiden schnappen sich den Direx jeweils links und rechts an einem Arm.

"Was soll das? Wer sind sie? Was machen sie da? Lassen sie mich los!" versucht er sich gegen sie zu stemmen.

"Sie kommen jetzt schön mit uns mit und verlassen ohne weiteres Aufsehen mein Jugendzentrum." sagt Kurt ruhig, aber bestimmt.

"Aber ich bin der Direktor! Das können sie nicht mit mir machen! Ich bin der Direktor, und ich bin im Recht! Ich gehe nirgendwo hin! Finger weg!"

"Wissen sie, Herr Direktor, es gibt zwei Möglichkeiten." sagt Neuroth. "Entweder sie klettern jetzt in aller Ruhe und ohne Ärger zu machen mit uns von dieser Bühne, oder sie stolpern zufällig über meinen Freund hier und brechen sich vielleicht bei der Landung auf dem Boden da unten irgendwas. Sie haben die Wahl. Was darf es sein, Herr Direktor?"

Dabei pocht er mit seinem Basie demonstrativ einmal fest gegen den Bühnenrand und der Direx zuckt zusammen.

"Gut, ich gehe." sagt er trotzig. "Aber wenn die Polizei kommt, werden wir schon sehen, was sie von ihren Methoden hält. Das wird Konsequenzen haben, das versichere ich ihnen!"

"Mit der Polizei habe ich bereits gesprochen." sagt Kurt grinsend. "Wir kennen uns gut, und wann immer es hier eine Beschwerde gibt, werde ich zuerst angerufen, bevor ein Streifenwagen losgeschickt wird. Der Beamte sagte - ich zitiere wörtlich - "Schmeißen sie diesen Spinner raus! Der geht uns schon die ganze Woche auf die Nerven mit seinem Scheiß-Auto." So, und jetzt Abmarsch, Herr Direktor!"

Kurt und Neuroth klettern mit dem sichtlich angeschlagenen Direx von der Bühne herunter, der nur noch leise vor sich hin flucht und brabbelt. Neuroth nimmt ihm das Mikro, das er immer noch in der Hand hält, ab und wirft es Vinnie zu. Vinnie gibt Kai ein Zeichen, wieder hochzufahren.

"Und noch mal einen herzlichen Beifall für Mosi, unseren Pausenclown!" ruft er in die Menge, und die Menge johlt und pfeift und klatscht, bis der Direx außer Sichtweite ist.

"Okay, und weil's so schön war, spielen wir zu seinem Abschied noch einmal sein Lied! Schnösel! Auf die Ohren! Nur für sie, Herr Direktor! Alle mitsingen, sonst hört er uns nicht!

Hau rein, Danny!"

 

Wie gesagt, etwas zu viel Slapstick, denke ich.

Hat eigentlich irgendjemand gemerkt, dass sich doch ein kleines bisschen von Vinnies' ursprünglicher Aktion ins fertige Buch geschlichen hat? Seite 246 im Buch, die vorletzte Zeile des Liedtextes ... Hi, hi!


 
 

 

 

 

VERDAMMTER DIENSTAG

 

 

 

 

 

Dieses Buch war ursprünglich eine Kurzgeschichte mit dem Titel "Dienstag", die ich mal aus einer Laune heraus geschrieben hatte. Als Arena mich dann fragte, ob ich nicht eine Idee für einen Kurzroman unter 100 Seiten hätte, der sich als Schullektüre eigen würde, schlug ich vor, diese Geschichte etwas auszubauen, und man nahm meinen Vorschlag an.

Die ursprüngliche Fassung beginnt sofort in der Schule und unterscheidet sich vom Inhalt her nur unwesentlich von "Verdammter Dienstag". Es gibt allerdings eine Schulstunde (die 5.), für die auf den 99 Seiten kein Platz mehr war; deswegen sind im Buch die letzten zwei Stunden eine Doppelstunde.

 

Hier also die "fehlende" Stunde, die quasi Krovcic gehört:

 

11:25

Eins steht fest: Wir sind tot. Wir sind aber auch sowas von tot. Ich sehe es schon vor mir. Die sechste Stunde ist vorbei, ich laufe mit Tommy und Kessler zum Bus, wo uns hundert Zehntklässler angeführt von einem piepsstimmigen Liebenhoff erwarten, uns eiskalt hinrichten und unsere leblosen Körper als abschreckendes Beispiel am Fahnenmast baumeln lassen. 

"Und wer verabschiedet diese Gesetze?"

Ach ja, Unterricht. Sozialkunde, Hannemann, bitte Fräulein Hannemann. Die tickt echt nicht mehr ganz richtig. Besteht allen Ernstes und mit Nachdruck darauf "Fräulein" genannt zu werden. Wer sagt denn heutzutage noch Fräulein? In ihrer ersten Stunde bei uns ist sie heulend zum Direx gerannt, wegen Krovcic. Dabei hatte er sie nur gefragt, ob er mal auf Toilette dürfte.

"Frau Hannemann, muss ich mal korrekt auf Toilette."

"Bitte Fräulein Hannemann."

"Danke, Frau Hannemann."

"Nein ... bitte Fräulein Hannemann!"

"Was, nein? Aber muss ich doch ganz konkret, Frau Hannemann!"

"Nein, nein, nein! Fräulein Hannemann!"

"Schreist du mich bitte nicht so an, Frau Hannemann. Hab ich schwache Blase."

"Fräulein Hannemann!!!"

Sie lief rot an, presste ihre Fäuste gegen die Schläfen und rannte schreiend aus dem Zimmer. Danach hatten wir drei Wochen lang eine Vertretung. Es hieß, Fräulein Hannemann hätte sich eine Viruserkrankung zugezogen, aber wir wissen alle, dass sie in der Klapse war. Geholfen hat es nicht viel, denn sie steht nach jeder Stunde kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Ich denke nicht, dass sie dieses Schuljahr überleben wird. Genauso wenig, wie ich diesen Dienstag überleben werde, verdammt! Vielleicht verschonen sie mich ja? Vielleicht kann ich mich irgendwie rausreden? Schließlich war nicht ich es, der Liebenhoff die Familienjuwelen poliert hat. Kessler war's, ganz alleine, genau! Kessler muss sich opfern, keine Frage. Was bringt es denn, wenn wir alle drei sterben? Einer genügt doch, oder? Nein, das geht natürlich nicht. Wir sind Freunde, und Freunde lassen Freunde nicht im Stich. Ich wünschte nur, meine Freunde könnten Karate, oder Kung Fu, oder irgendeine andere todesbringende Kampfsportart. Aber Tommy spielt nur Tischtennis und Kessler ist im Turnverein; nicht gerade die optimalen kämpferischen Ausbildungen gegen eine Übermacht von blutrünstigen Zehntklässlern. 

"Frau Hannemann? Muss ich mal korrekt auf Toilette."

Krovcic kann's einfach nicht lassen.

"Bitte Fräu ... ach, geh doch einfach."

Eine gebrochene Lehrerin mag zwar einen gewissen Siegesstolz hervorrufen, ist aber trotzdem ein sehr bedauernswerter Anblick. Diese Frau hat einfach den falschen Beruf gewählt. Traurig, dass sie es auf die harte Tour erfahren musste. 

Der vorletzte Gong meines Lebens. Leben sie wohl, Fräulein Hannemann. Und suchen sie sich einen ruhigen Job. Wie wär's mit Friedhofsgärtnerin? Mein Grab wird Pflege brauchen.

 

 

 

 

 

BAUCHLANDUNG

 

 

 

 

 

Und wieder mal ein Titel, der nicht von mir ist und mit dem ich mich nur sehr schwer anfreunden konnte. Wenn es nach mir gegangen wäre hieße dieses Buch jetzt "Heißhochhundert", wer es gelesen hat, weiß warum. Aber dieser Titel war dem Verlag für ein Jugendbuch eben zu "heiß", genau so, wie einige Szenen, die ich hier nun aufführen werde.

 

Folgende Szene beschreibt einen Traum, den Paul hat, als er einschläft während er und Bea auf die Pizza warten. Im Buch käme das auf Seite 70, genau zwischen Zeile 25 und 26.

 

Nicht mal eine Sekunde später - zumindest kommt es mir so vor - finde ich mich auf einer riesigen, sehr, sehr steilen Treppe wieder. Ich kann nicht sehen, wo sie hinführt, weil mir die vier anscheinend mit Ziegelsteinen vollgepackten Umzugskartons, die ich auf den Armen trage, die Sicht versperren. Ich schleppe mich und die Kartons die Stufen hinauf, noch eine und noch eine und noch eine, es scheint kein Ende zu nehmen. Da, endlich, nach über tausend Stufen, ein Absatz. Vorsichtig taste ich mich ein paar Schritte nach vorne. Tatsächlich, keine Stufen mehr. Ich stelle die Kartons auf dem Boden ab. Als ich mich wieder aufrichte steht Bea plötzlich vor mir, und sie hat nichts an außer einem hauchdünnen, durchsichtigen, dunkelroten Nachthemdchen, das ihr gerade mal bis knapp über die Hüften reicht, die sie aufreizend verführerisch vor mir kreisen lässt. Endlich, sage ich zu ihr und reiße mir mein verschwitztes T-Shirt vom Oberkörper, endlich kriege ich meine Überraschung! Bea kommt auf mich zu, bleibt so dicht vor mir stehen, dass ich ihre Brüste knapp über meinem Bauch wundervoll weich spüren kann und lässt ihre rechte Hand in meine Hose gleiten. Ja, sagt sie, jetzt kriegst du deine Überraschung. Ich schließe die Augen. Ja, das ist es, das ist der Himmel, ich bin endlich, endlich angekommen. Jetzt kriegst du deine Überraschung, haucht sie noch ein mal, sobald du die Schränke, die noch unten stehen hier hoch gebracht und aufgebaut hast, du kleiner Perversling! Wie bitte, was? Nein, das kann doch nicht ... das darf doch einfach nicht ... Ich sacke vor ihr auf die Knie. Bitte nicht! flehe ich sie schluchzend an. Keine Schränke mehr! Das überlebe ich nicht! Hab Erbarmen, oh allerallerbeste Bea! Ich kann nicht mehr! Ein Schrank noch, und ich breche zusammen! Sie beugt sich zu mir herunter und nimmt meinen Kopf zwischen beide Hände. Ach, du mein armer, armer Paul, lächelt sie mich sanftmütig an, es sind doch nur noch siebenunddreißig kleine Kleiderschränke, das schaffst du schon, du bist doch mein großer, starker, harter Paul. Diese Bestie, sie will mich umbringen! Ich fahre wirr vor Schreck hoch und stolpere drei Schritte vor ihr zurück. Was ... was hast du gesagt? stammle ich immer weiter zurückweichend. Wie viele Schränke stehen noch da unten? Mein letzter Schritt rückwärts tritt in die Leere einer Stufe. Ich versuche noch mit einer Drehung eine Strebe des Geländers zu ergreifen, schaffe es aber nicht und fange an die riesige, endlos lange und steile Treppe hinunter zu fallen. Sechsunddreißig! höre ich Bea von ganz weit oben rufen, während ich mich immer weiter um mich selbst drehend und jedes Körperteil hart aufschlagend bergab rase. Sechsunddreißig! ruft sie noch ein Mal.

 

Die nächste Szene spielt kurz später, als Paul und Bea miteinander schlafen. Ich hatte das Ganze etwas ausführlicher beschrieben, ist ja schließlich nichts dabei, wenn zwei Menschen sich lieben, dachte ich. Hinzu kommt noch eine kleine Anekdote von Paul, die sich mit Oralsex beschäftigt, denn ursprünglich war das einer von Pauls größten sexuellen Wünschen. Im Buch käme das auf Seite 88 zwischen Zeile 9 und 10.

 

Sie fängt an meinen Hals zu küssen, mal ganz sanft, zwischendurch mit kleinen Bissen, und langsam bewegt sie sich auf meinem Körper abwärts, verweilt eine Zeit lang auf meiner Brust, ihre Zunge ständig auf meiner Haut tanzend, jetzt etwas tiefer, zwischen Brust und Bauch, ihre Hand gleitet wieder in meinen Schritt und packt zu, ihre Haare streichen über meine linke Seite, ihre Zunge kitzelt meinen Bauchnabel, jetzt noch ein Stückchen tiefer, ihre Finger ziehen leicht am Bund meiner Boxershorts, ihre Zunge fährt über den Abdruck des Gummibands, sie greift mit beiden Händen in den Stoff und reißt die Hose über meine Beine nach unten, ich strample sie mir über die Unterschenkel komplett vom Körper, Beas Zunge kehrt zurück auf meinen Bauch, ja, das ist perfekt, meine Hände greifen in ihre Haare, ob ich es wagen soll? Ich schiebe ihren Kopf ganz sachte ein Stück tiefer, ihr Hals streift den herausragendsten Teil meiner Erregung, noch ein bisschen tiefer, Bea, ja, genau, ihre Hand packt feste zu, sind das ihre Lippen, die ich da seitlich spüre?, ja, das sind sie, mach weiter Bea, tu es, nur ein einziges Mal, für mich, nimm ihn in den ...

"Tut mir Leid, Paul" kommt ihr Kopf plötzlich auf mein Gesicht zu, und sie küsst mich sanft auf den rechten Mundwinkel. "Du weißt doch, ich kann das einfach nicht."

Ja, das weiß ich, leider. Aber hoffen wird man wohl noch dürfen. Sie ekelt sich davor, das hat sie mir schon gesagt, bevor wir überhaupt zum ersten Mal miteinander geschlafen haben, und ich habe das akzeptiert, so schwer es mir auch fällt. Sie soll und muss nichts machen, was sie nicht will, das versteht sich von selbst. Aber ich würde trotzdem nur allzu gerne wissen, wie sich das anfühlt; ich stelle es mir sensationell gut vor. Und ich würde es sogar selbst machen, aber ich komme da einfach nicht dran, ich habe es schon in allen möglichen Lagen und Stellungen probiert. Na ja, wenigstens habe ich mir dabei nicht den großen Zeh gebrochen, so wie Torsten. Kein Witz. Er hat gesagt, er bringt mich um, wenn ich das jemals jemandem erzähle, und obwohl das jetzt bereits vier Jahre her ist, würde er diese Drohung auch heute noch ohne zu zögern sofort in die Tat umsetzen, da bin ich mir sicher. Wir waren vierzehn oder fünfzehn, achte Klasse jedenfalls, und Torsten kam eines Morgens mit einem dicken Gipsfuß in die Schule gehumpelt. Er wäre beim Spielen mit dem Hund aus vollem Lauf heraus gegen eine Türkante gerannt und hätte sich so den großen Zeh gebrochen. Das klang plausibel, und wir glaubten ihm alle. Am folgenden Wochenende habe ich dann bei ihm übernachtet, weil sein Vater - seine Eltern hatten sich im Jahr zuvor scheiden lassen - nicht da war. Wir machten uns erst ein bisschen über die Hausbar (wer ein mal an Strohrum genippt hat, wird es nie wieder tun) und danach über die Pornoheftchensammlung seines Vaters her. Und als wir dann aufgrund des detaillierten Anschauungsmaterials schon mal beim Thema waren, rückte er zu später Stunde schließlich mit der Wahrheit über die Entstehung seines Gipsfußes raus. Auch er hatte, so wie ich, bereits des Öfteren orale Selbstversuche in Richtung seines Schritts unternommen, und bei einem dieser Selbstversuche auf der Wohnzimmercouch - sein Vater war natürlich außer Haus - war es dann passiert. Torsten wollte sich die Schwerkraft zu Nutzen machen und legte sich mit Blick an die Decke auf die Sitzfläche der Couch, Beine und Hüfte zu einer Kerze gestreckt an die Rückpolster gelehnt. Wenn ich jetzt die Beine einfach nach hinten umklappen lasse, dachte er, sollte sich meine Hüfte eigentlich so dicht vor meinem Kopf befinden, dass es reichen müsste. Gesagt, getan. Er ließ seine Beine nach hinten kippen, konnte sie allerdings nicht in der gewünschten Stellung abbremsen und überschlug sich von der Couch herunter und mit dem großen Zeh genau auf die Kante des massiven Wohnzimmer-Glastisches krachend. Splitterbruch, vier Wochen Gips; der Glastisch steht heute noch unversehrt im Wohnzimmer seines Vaters. Und wenn ich dieses Geheimnis nicht mit ins Grab nehme, wird Torsten mich auf schnellstem Weg genau dort hin befördern, was ich ihm noch nicht mal verdenken könnte, peinlicher geht's ja gar nicht. 

Ich habe ja von Jungs gehört, die das tatsächlich selbst hinkriegen, weil sie sich derart verbiegen können, dass sie locker da dran kommen. Aber da ich leider nicht von der Schlange abstamme und eine Frau liebe, die sich davor ekelt, wird mir dieses Vergnügen wohl auf ewig versagt bleiben.

"Ist schon okay" küsse ich Bea auf die Stirn. "Nicht schlimm. Komm her!"

 

Die folgende Szene, als Paul in seinem Bett liegt und dem Treiben nebenan lauscht, wurde ebenfalls stark gekürzt. In der ursprünglichen Version gab es mehr zu hören und Pauls Fantasie wurde dabei nicht unwesentlich angeregt. Im Buch beginnt das auf Seite 125.

 

Fernseher an, Klamotten aus und ab ins Bett. Was läuft denn eigentlich so Montags um die Uhrzeit? Noch zu früh für Raab. Ich zappe zweimal komplett durch und bleibe auf einer Tierdokumentation hängen. Was ist das? Sind das Kängurus? Tatsache, das sind fickende Kängurus. Machen ganz schönen Lärm dabei, klingen fast wie Menschen. Ich zünde mir eine Kippe an. Mein Gott, ist das das Weibchen, dass da so schreit? Ist ja der Hammer. Und wie lang das dauert. Hören die denn gar nicht mehr auf? Ich gucke auf die Uhr. Mal sehen, wie lange die das noch aushalten. Das Geschrei wird immer lauter. Wusste gar nicht, dass mein kleiner Fernseher so einen Sound hat. Klingt wie Dolby-Surround. Aber ich habe doch gar kein Dolby-Surround, oder? Ich könnte schwören, diese Kängurus treiben es direkt hinter mir. Ich schalte die Lautstärke aus, aber das Geschrei geht weiter. Verdammt, das ist ... Nein! Nie im Leben! Das kommt von nebenan! Kann das sein? Ist das wirklich ... Oh, Mann, Tatsache, das ist Heißhochhundert! Und irgendein Typ, nehme ich an. Ich werd verrückt. Die geht ja ab wie ne Rakete. Ihr Bild baut sich vor meinem geistigen Auge auf, genau in dem Zustand, in dem sie sich allem Anschein nach gerade befindet, nur ohne den Typ, natürlich. Verdammt, sieht das geil aus. Ich schließe die Augen. Sie sitzt auf mir, ihr Oberkörper kerzengerade aufrecht, den Mund weit geöffnet, stöhnend, wippend, meine Hände auf ihren perfekten, bebenden Brüsten, und sie schaut mich dabei an, ohne auch nur einen zuhöchst erregten Blick von mir zu lassen. Das Stöhnen wird immer lauter, wild und unbeherrscht, pure geschrieene Lust. Bea stöhnt nie so. Warum eigentlich nicht? Liegt das an mir? Ich hoffe doch nicht. Und so lange dauert es bei Bea auch nie. Hört das denn gar nicht mehr auf? Da, lauter kann sie nicht mehr schreien, jetzt kommt sie. Und ich auch gleich, wenn ich meine Hand da nicht weg nehme. Oh, nein, das war's doch noch nicht. Wie oft kommt die denn? Da, schon wieder! Ich kann nicht mehr, das hält doch kein Mann aus. Meine Hand passt sich dem Rhythmus ihres Stöhnens an, und als sie das nächste mal kommt, bin ich auch soweit. Kurz bevor ich am Ziel bin, zwinge ich mein Gehirn allerdings auf ein Bild von Bea umzuschalten. Ich komme gleichzeitig mit Bea, während Heißhochhunderts Stöhnen nebenan in einer Explosion gipfelt und zu einem regelmäßigen Keuchen wird. Mein Gott, was für eine Show! Hoffentlich passiert das nie, wenn Bea hier schläft. Obwohl, vielleicht wirkt das ja ähnlich anregend auf sie, wie auf mich? Wäre einen Versuch wert. 

Ich entferne die Überbleibsel dieser Anregung mit einem Taschentuch, vergrabe es ganz unten in meinem Papierkorb und zünde mir die berühmte Zigarette danach an. Dafür, dass es allein war, war das wirklich verdammt guter Sex eben, stelle ich befriedigt fest. Nebenan ist auch Ruhe eingekehrt, kein Wunder nach dieser Show.

 

 

 

 

DER LETZTE ROMANTIKER

 

 

 

 

 

Obwohl es zuerst so aussah, als würden bei diesem Buch nur Kleinigkeiten rausfliegen, wurden es dann doch zwei größere Szenen. Wobei beide nicht aus inhaltlichen Gründen, sondern mit Blick auf das Tempo des Buchs entfernt wurden. Die erste spielt im Karlchen-Kapitel an der Tankstelle, kurz nachdem Vinnie von Franz eingewiesen wurde.

 

Im Buch wäre das auf Seite 102 nach dem ersten Absatz.

 

"Scheiß moderne Technik!" flucht Franz neben mir.

Ja, genau. Das von einem, bei dem selbst die Klospülung per Voice-Control betätigt wird.

Wieder Warten. Der BMW fährt weg. Das nächste Auto nähert sich. Ein alter Opel. Er hält an der ersten Säule. Eine alte Frau steigt langsam aus, sehr langsam, es dauert eine halbe Ewigkeit, bis sie es komplett aus dem Wagen geschafft hat. Sie hat einen Stock. Sie trippelt scheinbar in Superzeitlupe einen Fuß vor den anderen setzend um das Auto. Am Heck angekommen stützt sie sich mit einer Hand auf den Kofferraumdeckel und atmet tief durch. 

"Die schließt ihre Karre nicht ab, jede Wette" sagt Franz. "Die kann froh sein, wenn sie es bis zur Kasse und zurück schafft."

"Einen Zehner dagegen" sagt Gunther. "Alte Leute schließen immer ihre Autos ab. Karlchen?"

"Nee, nee, lasst mich da raus dies mal! Ich hab vorhin schon einen Zehner verloren."

"Den ich übrigens immer noch nicht gesehen habe!" zischt Franz mich an.

"Kriegst ihn schon noch!" zische ich zurück.

Die alte Frau hat es mittlerweile geschafft, ihren Tankdeckel zu öffnen und den Stutzen hinein zu stecken. Die Tankuhr läuft, sie steht ganz dicht davor und beobachtet die ratternden Zahlen. Es klickt dumpf, der Tank ist voll. Sie hängt den Stutzen zurück in die Halterung, greift nach ihrem Stock, den sie an die Säule gelehnt hatte und trippelt gebückt und humpelnd los in Richtung Kasse.

"Scheiße!" flucht Gunther.

"Ein Hoch auf die Gebrechlichkeit!" triumphiert Franz.

Vinnie hat sich mittlerweile bis an die Zapfsäule der alten Frau heran gelungert und schaut ihr hinter einem Pfeiler versteckt nach, bis sie schließlich im Gebäude verschwindet. Ein fragender Blick zu uns herüber. 

"Los, ins Auto, du asozialer Schwachkopf!" zischt Franz und gibt ihm mit den Händen fuchtelnd Zeichen. 

Vinnie streckt einen Daumen in die Luft und schleicht gebückt um den Wagen herum. Er öffnet die Fahrertür, schaut sich kurz um, krabbelt gebückt hinein und schließt die Tür vorsichtig. 

"Na also, geht doch" stöhnt Franz auf. 

Vinnie sitzt hinter dem Steuer, bewegt das Lenkrad hin und her und tut so, als würde er fahren. Er grinst breit zu uns herüber und drückt ein mal kurz auf die Hupe.

"Sag mal, tickt der noch ganz richtig?" zeigt Franz ihm den Vogel und winkt mit der anderen Hand flach nach unten. "Duck dich gefälligst, du Vollidiot! Wir sind doch hier nicht auf'm Abenteuerspielplatz!"

Vinnie hupt noch ein mal kurz grinsend und rutscht tief nach unten in den Sitz.

"Warum muss eigentlich ausgerechnet ich immer mit der Crème de la Creme der Bekloppten arbeiten? Hättest du nicht einen aussuchen können, der ein kleines bisschen weniger debil ist, Karlchen? Ach, nein, das wäre wohl zu viel verlangt gewesen. Wenn man einen Blinden los schickt, um Gold zu suchen, darf man sich nicht wundern, wenn er mit einer Hand voll Scheiße zurück kommt!"

"Du hast gesagt, ich soll den mit den Haaren nehmen, Franz! Das war ganz allein deine Idee! Ich habe lediglich ..."

"Ja, ja, Karlchen, schon klar. Es muss unglaublich beruhigend sein, einen Job ohne jede Verantwortung zu haben, wo man alles auf andere abwälzen kann, nicht wahr? Ruhe jetzt! Speedy Gonzalez verlässt das Gebäude. Falls sie's durch die Schiebetür schafft, ha, ha! Aufpassen, Mütterchen! Diese Dinger sind noch schneller als deine Verdauung."

Ich sag's doch: Dieser Mensch ist schlecht, böse und gemein bis ins letzte Atom seines gehässigen Fleisches. Und obwohl ich ihn lieber sofort als gleich los wäre, wünsche ich ihm ein sehr, sehr langes Leben. Alt sollst du werden, Franz Fischkopp. Faltig, gebrechlich, von Inkontinenz durchtränkt und von Siechtum und Knochenschwund zerfressen sollst du über hundert Jahre alt werden, ohne jede Hoffnung auf Alzheimer, damit du auch nicht einen einzigen Moment deiner Qualen vergisst.

"Mann, mach hin, Oma! Bis die am Auto ist hab ich Ben Hur neu gedreht, samt Sequel. Eigentlich unfassbar, dass diese alten Klappergestelle überhaupt noch auf die Straße dürfen. Kann dieser wandelnden Krampfaderkolonie nicht mal jemand erklären, dass Schritte normalerweise größer sind als Schuhgrößen?"

"Sie hat's ja gleich geschafft, reg dich ab, Franz!" stöhne ich genervt.

"Na hoffentlich! Steht der Ton, Gunther?"

"Ton ist klar."

"Okay. Dann mal Action, Oma!"

Die alte Frau ist noch etwa drei Meter von ihrem Auto entfernt und trippelt weiter darauf zu. Sie hat Vinnie noch nicht entdeckt. Jetzt steht sie an der Wagentür. Sie lehnt ihren Stock an die Karosserie und fasst mit der linken Hand an den Griff. Sie öffnet langsam die Tür, was ihr nicht leicht fällt. Die Tür steht halb offen, sie greift nach ihrem Stock. Plötzlich ertönt ein lautes, anhaltendes Hupen und Vinnies Kopf schnellt aus dem Türrahmen hervor.

"Buh!" schreit er und verzieht sein Gesicht zu einer fiesen Grimasse, muss aber im gleichen Moment anfangen zu lachen.

Die alte Frau, immer noch nach ihrem Stock gebückt, klappt ohne einen Ton von sich zu geben zusammen, rollt auf den Rücken und bleibt alle Viere ausgestreckt regungslos dort neben ihrem Auto liegen.

"Ach du Scheiße!" rufe ich entsetzt.

"Gunther, ein Mikro, schnell!" fordert Franz. "Los, Karlchen, mir nach!"

Franz läuft los, ich mit laufender Kamera hinterher. Die arme Frau liegt immer noch am Boden, Vinnie kniet neben ihr und schaut uns ratlos entgegen. Franz erreicht die beiden als Erster und schubst Vinnie beiseite.

"Du bist im Bild, du Trottel!" fährt er ihn an. "Und hatte ich irgendwas davon gesagt, dass du die Leute ins Koma buhen sollst?"

"Ich ..."

"Saubere Arbeit, Junge!" lächelt Franz mit einem Blick auf die ohnmächtige Frau und klopft Vinnie auf die Schulter. "Du denkst mit, das ist selten in diesem Gewerbe."

Vinnie atmet erleichtert auf.

"So, und jetzt wollen wir mal sehen, wie wir dieses Wrack reanimieren können. Hast du alles drauf, Karlchen?"

"Ja. Was hast du vor? Sollten wir nicht lieber einen Arzt rufen?"

"Ach, papperlapapp, Arzt! Ein paar Ohrfeigen, und die ist so gut wie neu. Pass auf."

Er beugt sich zu ihr herunter, hält ihr das Mikro vor den Mund und klatscht ihr mit der freien Hand drei mal leicht auf die linke Backe.

"Hey, Oma! Aufwachen!" brüllt er sie an. "Auch wenn du's nicht gerne hörst, aber du bist noch nicht über'n Jordan! Ein paar Tage hast du bestimmt noch! Hallo? Hörst du mich?"

Keine Reaktion. Franz schlägt fester zu, immer abwechselnd links und rechts. Ihr Kopf fällt hin und her, aber sie regt sich immer noch nicht.

"Das hat doch keinen Sinn, Franz!" versuche ich ihn aufzuhalten. "Wenn du weiter auf sie eindrischst, wacht sie nie mehr auf!"

"Quatsch nicht, hilf mir lieber! Nein, du nicht, du musst weiter drehen. Mr. Asozial, pack mal mit an! Wir richten sie auf und lehnen sie ans Auto. Gunther? Bring mir mal ein Glas Wasser rüber! Oder besser einen Eimer, wenn du einen auftreiben kannst."

Franz und Vinnie schnappen sich jeweils einen Arm und drehen den reglosen Körper schleifend mit dem Rücken an den hinteren Kotflügel. 

Gunther selbst kommt zu uns herüber gerannt, in der Hand eine Flasche Mineralwasser.

"Sorry" keucht er und reicht sie Franz. "War nichts anderes zu finden."

"Egal, wird schon gehen" sagt Franz und dreht ein mal fest am Schraubverschluss. 

Das Wasser zischt und spritzt in sprudelnden Fontänen aus der Flasche.

"Verdammter Mist!" flucht Franz und hält sie schnell von sich weg, der armen Frau direkt vor ihr Gesicht. 

Ein Strahl Wasser schießt genau in ihre Nase, binnen Sekunden ist ihr ganzer Kopf klatschnass. Franz lässt den Rest aus der Flasche bis zum letzten Tropfen in ihren Nacken laufen.

"So!" sagt er und wirft die leere Flasche Gunther zu. "Wenn sie jetzt nicht wach wird, ist sie wirklich hin."

Wir starren alle vier gebannt auf die arme, Mineralwasser triefende Frau. Ihre Lider zucken kurz. Ihr rechter Augapfel bewegt sich. Sie öffnet beide Augen, schließt sie wieder und fängt an zu husten und zu schnaufen. Ein bisschen Wasser schießt aus ihrer Nase. Franz hält ihr wieder das Mikro vor den Mund und legt sein schmierigstes Kamera-Lächeln auf. Sie blinzelt ein paar mal und schaut uns dann verwirrt an.

"Was ... Wo ... Wo bin ich?" stammelt sie ganz leise und kraftlos.

"Sie sind im Fernsehen, liebe Frau" flötet Franz in einem widerlich süßlichem Ton.

"Im Fernsehen?" flüstert sie und zupft sich einige nasse Strähnchen von der Stirn. "Aber ... Wie komme ich denn ... Ich war doch eben noch an der Tankstelle? Was ... Was ist denn bloß passiert?"

"Sie haben ihr Auto nicht abgeschlossen, gute Frau" sagt Franz mit besorgt vorwurfsvoller Miene. "Das ist passiert. Sie waren ganz schön leichtsinnig, wissen sie das?"

"Mein Auto?" wundert sie sich. "Ach ja, richtig. Ich war tanken. Und dann war ich drinnen beim Bezahlen, und dann bin ich zurückgekommen und ... Aaaah!" schreit sie panisch auf, als sie Vinnie sieht und offenbar wieder erkennt.

Vinnie winkt ihr beschämt lächelnd zu.

"Dieser ... dieser Verbrecher da!" zeigt sie mit dem Finger auf ihn und krallt sich mit der anderen Hand in Franz' Arm fest. "Dieser Bandit wollte mein Auto stehlen! Er hat mich angegriffen, ich erinnere mich jetzt genau! Haben sie schon die Polizei verständigt? Passen sie bloß auf, dass er nicht weg rennt! Das ist ein ganz gefährlicher Bursche! Sich an einer alten, wehrlosen Frau zu vergreifen! Eine Schande ist das!"

Franz löst angewidert ihre Hand von seinem Arm und tätschelt ihre Schulter.

"Aber, nein, gute Frau. So beruhigen sie sich doch. Es ist alles in bester Ordnung, glauben sie mir. Dieser junge Mann gehört zu uns, und ich versichere ihnen, er hatte keinerlei böse Absichten. Wissen sie, wir drehen hier gerade einen Beitrag für unser SAT7Boulevardmagazin, und wir ..."

"Auf SAT7?" blitzen ihre Augen auf. "Das kenne ich! Die Sendung schaue ich mir jeden Abend an. Sehr interessante Themen haben sie, das muss ich sagen. Die armen, kranken Kinder zum Beispiel, die nicht in die Sonne dürfen und immer drinnen spielen müssen, weil sie sonst verbrennen. Krankheiten gibt es, von denen habe ich im ganzen Leben noch nichts gehört. Oder der kleine Junge aus Russland mit dem Klumpfuß. Das hat mich so traurig gemacht, dass ich weinen musste. Ach, es gibt einfach zu viel Leid auf dieser Welt, finden sie nicht?"

"Jawohl" nickt Franz ernst. "Und wir bringen es ihnen direkt ins Wohnzimmer. Das ist unsere Aufgabe."

"Dann ist dieser Bursche also gar kein Dieb?" fragt sie mit skeptischem Blick auf Vinnie. "Er sieht aber genau so aus, wie ein Dieb."

"Nein, nein, gute Frau, ganz im Gegenteil. Der junge Mann ist Soziologiestudent und unterstützt uns mit Rat und Tat bei unserer Arbeit. Wissen sie, wir wollen ja in unserer Sendung auch beraten und vor möglichen Gefahren warnen und ..."

"Ja, das ist auch sehr wichtig und überaus lobenswert in der heutigen Zeit" nickt die alte Frau zustimmend.

"Sehen sie, und genau deswegen sind wir heute hier. Wir wollen den Zuschauern zeigen und sie davor warnen, was alles passieren kann, wenn man sein Auto an der Tankstelle nicht abschließt."

"Oje, da war ich wohl kein gutes Beispiel" 

"Mitnichten, gute Frau, mitnichten. Sie waren das perfekte Beispiel, denn sie haben gezeigt, welche schlimmen Folgen es haben kann, sein Auto offen zu lassen. Die Zuschauer werden das erschreckt sehen, und wenn sie das nächste Mal zum Tanken fahren werden sie sich sofort an sie erinnern und gewissenhaft ihr Auto abschließen, da bin ich mir ganz sicher. Sie haben uns und der Gesellschaft einen riesigen Dienst erwiesen, gute Frau. Sie können stolz auf sich sein!"

Sie errötet leicht und Franz zwinkert uns hämisch grinsend zu.

"Das heißt also, ich bin wirklich und leibhaftig im Fernsehen?" starrt sie mit großen Augen direkt in meine Kamera und fängt wieder an, an ihren Haaren herum zu zupfen.

"Das sind sie" sagt Franz und zieht ein gefaltetes Blatt Papier aus seiner hinteren Hosentasche. "Sobald sie das hier unterschrieben haben, können sie sich in ihrer ganzen Pracht landesweit auf dem Bildschirm bewundern lassen. Unten links, bitte."

Er reicht ihr das Papier und einen Kugelschreiber. Sie nimmt beides zögerlich an sich, entfaltet das Blatt und betrachtet es sich mit zusammen gekniffenen Augen.

"Was steht denn da?" fragt sie. "Wissen sie, lesen strengt mich doch sehr an seit ein paar Jahren. Aber mein Mann, Gott hab ihn selig, hat immer gesagt, ich soll nichts unterschreiben, was ich nicht genau durchgelesen habe."

"Ach, da machen sie sich mal keine Sorgen" winkt Franz ab. "Das ist eine reine Formsache, lauter juristisches Kauderwelsch, das sowieso niemand wirklich versteht. Da steht einfach nur drin, dass sie uns nicht böse sind und dass sie damit einverstanden sind ins Fernsehen zu kommen. Jetzt frage ich sie: Wer wäre denn wohl nicht damit einverstanden ins Fernsehen zu kommen? Ich habe es jedenfalls noch nie erlebt, dass sich jemand geweigert hätte ins Fernsehen zu kommen. Dieser Wisch ist nur für unsere Rechtsabteilung, weiter nichts. Sie können ihn wirklich ganz beruhigt unterschreiben, gute Frau. Vertrauen sie mir."

"Natürlich vertraue ich ihnen" sagt sie und setzt den Kugelschreiber an. "Schließlich sind sie ja vom Fernsehen."

Sie reicht Franz das unterschriebene Blatt, er steckt es schnell ein.

"Perfekt" lächelt er zufrieden. "Ich danke ihnen vielmals, gute Frau. Aber jetzt müssen sie uns leider entschuldigen, denn wir haben noch eine ganze Menge zu tun. Könnten sie wohl möglichst schnell ihren Wagen aus dem Weg schaffen? Wir brauchen den Platz. Das wäre nett. Auf Wiedersehen!"

"Ja, natürlich, das mache ich sofort" sagt sie und versucht aufzustehen, schafft es aber nicht alleine und sinkt wieder auf den Boden. "Wenn sie mir nur kurz behilflich sein könnten? Die alten Knochen wollen nicht mehr so, wie ich will, wissen sie."

"Aber selbstverständlich, gute Frau, gar kein Problem" flötet Franz. "Gunther! Herr Soziologiestudent! Helft ihr auf und schafft sie ins Auto! Aber zackig, kapiert!" 

Gunther und Vinnie stellen sie wieder auf die wackligen Beine.

"Es tut mir wirklich sehr Leid" sagt Vinnie, als er ihr den Stock reicht. "Ich wollte sie nicht so erschrecken."

"Aber das macht doch nicht, junger Mann" erwidert sie und kneift ihm sanft in die linke Backe. "Es war ja schließlich für einen guten Zweck."

Vinnie hilft ihr ins Auto und schließt vorsichtig die Tür. Sie kurbelt ganz langsam und schwerfällig die Scheibe herunter.

"Sagen sie, wann wird denn das eigentlich gesendet? Ich möchte das nämlich meiner Tochter sagen, die hat so einen Fideo-Rekorder, wissen sie? Damit kann man ..."

"Habt ihr's bald?" ruft Franz ungeduldig dazwischen. "Die Karre muss weg, hab ich gesagt! Das ist doch kein Kaffeekränzchen hier, verflucht noch mal!"

"Es tut mir Leid" entschuldigt sich Vinnie erneut bei der alten Frau. "Sie müssen jetzt fahren. Ich weiß leider nicht, wann das gesendet wird. Irgendwann diese Woche, nehme ich an."

"Schon gut, junger Mann. Ich verstehe schon. Ich bin ihnen bei der Arbeit im Weg. Dann fahre ich wohl besser mal. Auf Wiedersehen und weiterhin gutes Gelingen wünsche ich ihnen."

Sie startet das Auto, winkt uns allen noch einmal und fährt los.

"Na endlich!" stöhnt Franz auf. "Ab sofort keine Scheintoten mehr, verstanden? Lasst uns weiter machen! Alle auf die Positionen! Und du, Mr. Asozial! Nur ins Auto setzen, sonst nichts! Kein Lenken, kein Hupen, keine Todesschreie, nichts. Ist das klar?"

Vinnie streckt grinsend einen Daumen in die Luft und beginnt wieder demonstrativ herum zu lungern.


Die zweite Szene gehört Otto, dem ich ursprünglich eine etwas größere Rolle zugedacht hatte. In der Endfassung spielt er nur eine geringe Nebenrolle, folgendes zeigt aber, dass er viel mehr involviert war, vor allem, was sein Verhältnis zu Bolkov angeht. Außerdem erfährt man hier noch einiges mehr über seine ganz spezielle Leidenschaft zum lieben Vieh. Diese Szene käme im Buch auf Seite 171 gleich nach "Alles Weitere sehen wir dann." 

 

"Holst du bitte noch Gläser aus dem Schrank, Becca?" sage ich laut, trage das Tablett zum Tisch hinüber und stelle es ab. "So, bitteschön, greifen sie zu. Wie gesagt, es ist nicht viel, aber ich versichere ihnen, es wird sie nicht umbringen. Oh, einen Moment, das geht so natürlich nicht. Becca, gibst du mir mal das Brotmesser? Ja, das große, dort an der Wand über der Spüle." 

Becca reicht mir das Messer. Der Schlapphut springt auf und richtet seine Pistole auf mich.
"Ach, sie möchten das Brot lieber damit schneiden?" zeige ich mit dem Messer auf die Pistole. "Und das geht? Also, diese Schusswaffen werden auch immer moderner. Was kann das Ding denn sonst noch? Kommt man damit auch ins Internet?"
"Fallen lassen! Sofort!" brüllt er mich an.

"Schneller ins Grab kommt man damit auf jeden Fall. Das Messer!"

"Legen sie es langsam auf dem Tisch ab, Otto" sagt Bolkov ruhig. "Tony wird das Brot schneiden."

Ich lege das Messer mit der Spitze zu mir auf den Tisch. Der Schlapphut steckt die Pistole wieder ein, setzt sich und fängt an, eine Scheibe Brot zu schneiden.

"Ähm, Chef?" sagt er, als die erste Scheibe von oben nach unten unterschiedlich dick vor ihm liegt. "Vielleicht machen sie das lieber. Ich glaube, ich kann kein Brot schneiden."

"Wie bitte?" sieht Bolkov ihn ungläubig an. "Was soll das heißen, du kannst kein Brot schneiden? Du triffst eine Fliege an der Wand mit dem Messer aus zehn Metern Entfernung und kannst kein Brot schneiden?"

"Ich hab das eben noch nie gemacht. Wer schneidet denn heutzutage noch Brot mit der Hand? Dafür gibt es doch diese Maschinen."

"Unglaublich" nimmt Bolkov das Messer und schneidet eine saubere Scheibe Brot ab. "Ist doch ganz einfach, schau her. Das war damals bei uns in der alten Heimat das erste, was man mit einem Messer gelernt hat. Kann kein Brot schneiden! Also, manchmal bezweifle ich den Nutzen von dem, was man Zivilisation nennt doch sehr. Jeder sollte zumindest in der Lage sein, eine Scheibe Brot zu schneiden. Wo kommen wir denn da hin? Vielleicht können in hundert Jahren die Leute noch nicht mal mehr eine Banane schälen ohne irgendeinen elektrischen Apparat? Nicht jede Entwicklung bringt den Menschen vorwärts. Oder wie sehen sie das, Otto? Sie leben ja doch noch vergleichsweise ursprünglich hier."

"Ich könnte nicht in der Stadt leben. Zu viele Verbrecher. Zum Glück verirren sich nur ganz selten mal welche in diese Gegend."

"Bäh! Was ist das denn?" spuckt der Schlapphut seine Milch zurück ins Glas. "Ist ja widerlich!"

"Das ist Milch" sage ich. "Die gibt's doch auch in der Stadt, oder?"

"Ja, aber da schmeckt sie."

"Hm, die ist ganz frisch" probiert Bolkov. "Es muss Jahrzehnte her sein, dass ich frische Milch getrunken habe. Wie viele Kühe haben sie, Otto?"

"Nur eine, Marie-Luise. Die Nachfrage nach Kühen ist nicht besonders hoch, sie sind zu groß und doch sehr träge. Ich habe sie eigentlich nur wegen der Milch."

"Was denn?" verzieht der Schlapphut das Gesicht. "Das Zeug kommt direkt aus dem Euter? So schmeckt es auch. Ist ja eklig!"

"Das ist Natur, Tony" sagt Bolkov. "Was glaubst du, wo die Milch aus dem Supermarkt her kommt?"

"Na, aus der Fabrik."

"Und woher, denkst du, kriegt die Fabrik die Milch?"

"Natürlich von den Kühen. Ganz so blöd bin ich auch nicht, Chef. Aber in der Fabrik machen sie noch irgendwas mit der Milch, damit sie besser schmeckt. Sie reinigen sie, oder ..."

"Alles sauber, Chef" betritt dieser Bölke die Küche, gefolgt von den anderen beiden. "Bis auf das hier. Die hab ich nebenan in der Scheune gefunden."

Die Schrotflinte, Mist. Nicht, dass sie funktionieren würde; sie war schon in der Scheune, als ich den Hof gekauft habe. Aber für einen kleinen Bluff wäre sie bestimmt gut gewesen. 

"So, so" nimmt Bolkov die Flinte entgegen und sieht sie sich genau an. "Was haben wir denn hier? Wozu brauchen sie die? Wollen sie damit Städter erschrecken?"

Er wirft mir die Flinte über den Tisch zu, ich fange sie mit einer Hand.

"Kaufen sie sich eine neue. Mit der können sie nicht mal Spatzen vertreiben. Kommt, setzt euch, Männer. Unser Gastgeber war so nett uns eine kleine Mahlzeit aufzutischen. Greift zu."

"Aber lasst die Finger von der Milch" warnt der Schlapphut. "Die ist nämlich frisch." 

Die drei setzen sich und Bolkov schneidet noch ein paar Scheiben Brot.

"Keine Wurst? Kein Schinken?" sieht sich dieser Bölke auf dem Tisch um. "Ich dachte, wir sind hier auf dem Land."

"Der Mann ist Vegetarier" erklärt Bolkov.

"Was ist ein Vegetarier?" stopft der Lange sich ein Stück Käse in den Mund.

"Ich esse kein Fleisch" sage ich.

"Warum?"

"Mein Bruder hat Tiere ganz doll lieb, Polio" sagt Becca und grinst mich dabei augenzwinkernd an. "Nicht wahr, Otto?"

"Hab ich auch" kaut der Lange. "In der Scheune sind ganz viele, Chef. Schäfchen sind da, und ganz kleine Schweinchen und Hühner hab ich gesehen. Und eine Kuh, aber die hat schon geschlafen." 

"Was ist das für ein Tier da an deinem Kopf?" frage ich ihn.

"Das ist Pikachu" grinst er und drückt ein Mal mit dem Finger darauf; es quiekt. "Hat mir Tony geschenkt."

"Sieht cool aus" lächle ich. "Wenn jetzt ein echtes hier auf dem Tisch liegen würde, würdest du es dann essen?"

"Es gibt Pikachus in echt?" reißt er seine Augen auf. "Wo denn? Kann ich eins haben, Chef? Ich pass auch ganz bestimmt gut drauf ..."

"Nein, nein" unterbreche ich ihn. "Es gibt natürlich keine Pikachus in echt. Ich meinte, nur mal angenommen, es gäbe welche, würdest du dann eins essen?"

"Ach so. Nein, ich würde nie ein Pikachu essen. Dafür hab ich sie doch viel zu lieb."

"Siehst du, und genau so geht es mir mit den Tieren in der Scheune. Deswegen esse ich kein Fleisch."

"Aber die Tiere in der Scheune hab ich auch lieb, alle! Chef, darf ich Vegetarier werden? Ich will nicht, dass die kleinen Schweinchen gegessen werden. Darf ich, ja?"

"Wenn du es unbedingt möchtest, ich habe nichts dagegen" sagt Bolkov. "Aber über eins musst du dir im Klaren sein: Das bedeutet keine gegrillten Hotdogs mehr, nie wieder."

"Oh. Aber die mag ich doch so gerne."

"Das waren alles mal kleine Schweinchen" schaue ich ihn ernst an.

"Wirklich? Kleine Schweinchen schmecken so lecker? Vielleicht sollte ich mir das doch noch mal überlegen mit dem Vegetarier werden. Kann ich ihnen morgen früh Bescheid sagen? Oder ist das zu spät für die Schweinchen? Ich verspreche auch bis dann keine Hotdogs zu essen, Ehrenwort."

"Morgen früh reicht vollkommen für eine Entscheidung. Vielleicht schaust du gleich noch mal in der Scheune vorbei und fragst die Schweinchen selbst, was sie davon halten?"

"Ja, das mach ich! Darf ich, Chef? Nur ganz kurz."

"Klar, geh nur" tätschelt ihm Bolkov die Schulter. "Von mir aus kannst du auch die ganze Nacht in der Scheune bleiben, wenn du willst."

"Echt? Oh, ja, das mach ich. Danke, Chef" erhebt er sich aus seinem Stuhl, schnappt sich noch ein Stück Käse und verschwindet.

"Apropos die ganze Nacht" gähnt und streckt sich Becca ausgiebig. "Wie sieht das aus? Dürfen wir noch ein bisschen schlafen bevor die Jungs kommen und sie uns alle umbringen?"

"Gnädigste" steht Bolkov auf und streicht seinen Anzug glatt. "Sie enttäuschen mich. Es war nie die Rede davon, sie und den Rest ihrer Familie zu töten. Außer ihrem missratenen Miststück von Sohn, natürlich. Es besteht wirklich keinerlei Anlass für sie ..."

"Ach, Bolkov" stöhnt Becca. "Ich bin echt zu müde, um mir um diese Uhrzeit noch Illusionen zu machen. Sie werden Koller töten, sie können keine Zeugen gebrauchen, also werden sie uns auch töten. Das weiß ich, das wissen wir alle, Punkt. Alles, was ich jetzt noch von ihnen wissen will ist, ob ich vorher noch ein paar Stündchen schlafen kann, oder nicht. Also, wie ist es? Kann ich hoch gehen und mich hin hauen?"

"Und sie werfen mir mangelndes Vertrauen vor?" schaut mich Bolkov seufzend an und wendet sich gleich wieder Becca zu. "Natürlich können sie schlafen gehen, wenn sie das möchten. Tony, Vinnie, ihr geht mit ihr. Fesselt sie. Wer mir nicht vertraut, dem traue ich auch nicht, Gnädigste. Und lasst sie nicht aus den Augen. Einer von euch bleibt wach, verstanden?"

"Geht klar, Chef!" sagt der Schlapphut und boxt dem Teenager auf den Arm. "Das wird Deine erste Wache, Kleiner! Bist du fit?"

"Logisch!" antwortet er. "Durchmachen ist eine meiner leichtesten Übungen."

"Okay, ihr Nachtkappen" winkt Becca sie auf, kramt eine Rolle dickes Klebeband aus einer Schublade und wirft sie dem Schlapphut zu. "Dann Abmarsch. Sonst könnt ihr mich gleich hier verschnüren und hoch tragen."

Schlapphut und Teenager erheben sich.

"Schlaf gut, Otto" küsst Becca mich noch, dann verlässt sie mit den anderen die Küche.

"Nehmt das Zimmer neben meinem" rufe ich ihr nach. "Das Bett ist bezogen."

Als sie verschwunden sind fange ich langsam an den Tisch abzuräumen. 

"Bölke, hilf ihm" nickt Bolkov.

"Nein, nein, lassen sie nur" winke ich ab. "Das ist wirklich nicht nötig. Ich räume das alles bloß schnell zusammen. Brauchen sie die Milch noch?"

"Nein, nehmen sie sie ruhig weg. Sie war übrigens vorzüglich."

"Dankeschön. Hätten sie etwas dagegen, wenn ich mich jetzt auch nach oben zurückziehe?"

"Wenn sie nichts dagegen haben, dass wir sie begleiten. Ich fürchte, darauf muss ich bestehen."

"Schon klar. Fesseln?"

"Ja, das auch."

"Gut, gehen wir" nehme ich eine andere Rolle Klebeband aus der Schublade. "Machen sie bitte das Licht aus?"

Wir verlassen die Küche und gehen die Treppe hoch, wo Naddel ungeduldig mit den Hufen scharrend auf mich wartet.

"Nicht heute, Naddel" streichle ich ihren Rücken. "Geh zu den anderen" klopfe ich ihr fest auf den Hintern, und sie trottet mit hängendem Kopf die Treppe herunter.

"Der Esel schläft sonst im Haus?" fragt dieser Bölke ungläubig.

"Ja, meistens" nicke ich.

"Sie müssen ihre Tiere wirklich sehr lieben" sagt Bolkov.

"Sie ahnen nicht im Geringsten, wie sehr. Kommen sie, hier rein" öffne ich die Tür.

"Sie haben Post." 

"Wer ist da drin?" schubst dieser Bölke mich mit gezogener Pistole im Anschlag zur Seite. "Bleiben sie dicht hinter mir, Chef!"

"Kein Grund zur Aufregung" muss ich grinsen. "Das war nur mein Computer. Und er ist nicht bewaffnet."

Dieser Bölke stürmt in mein Zimmer, dreht sich zwei Mal im Kreis und wirft sich auf den Boden, um unter das Bett zu gucken.

"Alles sauber, Chef" sagt er, und Bolkov und ich gehen hinein.

"Wenn es ihnen nichts ausmacht," sage ich mit Blick auf den Monitor. "würde ich gerne noch einen Blick auf meine E-Mails werfen."

"Nein, machen sie ruhig" legt Bolkov sich auf das Bett. 

"Das ist keine gute Idee, Chef" stellt sich dieser Bölke zwischen mich und den Computer. "Er könnte die Bullen damit rufen. Das geht heutzutage schon mit einem Knopfdruck."

"Glauben sie mir" schiebe ich ihn beiseite und setze mich an den Schreibtisch. "Polizei käme mir mindestens so ungelegen wie ihnen. Wenn ich irgendetwas überhaupt nicht gebrauchen kann, dann sind es neugierige Ordnungshüter, die hier herum schnüffeln."

"Aber, Otto! Sie erstaunen mich" richtet Bolkov sich auf. "Angst vor dem Gesetz? Was ist es? Nein, lassen sie mich raten. Eine Cannabis-Plantage gleich hinter der Scheune?"

"Nur drei Pflänzchen für den Eigenbedarf. Aber das ist es nicht."

"Sie könnten damit eine Menge Geld machen. Ich hätte da einen Abnehmer für sie. Ich selbst habe allerdings nie mit Drogen gehandelt. Ich verabscheue das Zeug."

"Danke, aber ich mache genug Geld."

"Was verkaufen sie?"

"Das da" zeige ich auf einen Stapel Videos neben dem Schreibtisch. "Unter anderem."

Bolkov gibt diesem Bölke ein Zeichen, Bölke reicht ihm eins der Videos herüber.

"Sie verkaufen Filme?" betrachtet er sich das Cover, auf dem die echte Naddel abgebildet ist. "Schmutzige, nehme ich an? Und damit verdient man genug? Ich habe das auch ein Mal versucht, vor Jahren. Habe die Dinger zu Tausenden nach Russland geschmuggelt. Aber die Gewinnspanne war mir einfach zu niedrig. Zu hohe Schmiergelder, die Transportkosten, das hat sich auf Dauer nicht gerechnet."

"Meine Kunden zahlen hundert Euro für eine dieser Kassetten. Die Produktionskosten belaufen sich auf etwa zwei Euro das Stück, den Transport bezahlt der Empfänger. Nicht gerade die schlechteste Gewinnspanne, würde ich sagen. Und dank der modernen Technik des Internets und eines guten Systems quasi ohne Risiko."

"Hundert das Stück?" nimmt sich dieser Bölke auch ein Video und betrachtet es von allen Seiten. "Dafür müsste mir diese Naddel schon höchstpersönlich einen blasen und die Feldbusch noch zusätzlich dabei auf meinem Gesicht sitzen. Was ist denn da drauf, dass die Leute so viel dafür bezahlen?"

"Ja, das würde mich jetzt allerdings auch interessieren" sagt Bolkov. "Was sind das für Filme, für die jemand einhundert Euro zu bezahlen bereit ist?"

"Wollen sie einen sehen?" schalte ich den Videorekorder neben dem Computer ein. "Aber ich muss sie warnen: Das ist nicht jedermanns Geschmack."

"Es gibt nichts, was ich noch nicht gesehen hätte" behauptet Bolkov grinsend. "Nur zu, zeigen sie uns, was sie verkaufen."

Ich schiebe eine Kassette ein und drücke auf Play. Auf dem Monitor erscheint das Bild, ich rücke zur Seite, damit die beiden besser sehen können. Der Titel wird eingeblendet, Riding High And Low.

"Meine Kundschaft ist international" erkläre ich.

Der Film beginnt mit mir als Zimmermann verkleidet, wie ich gerade auf dem Dach der Scheune knie und so tue, als würde ich lose Schindeln fest hämmern.

"Das sind doch sie!" zeigt dieser Bölke auf den Monitor. "Chef, das ist er!"

"Ja, ja, das sehe ich doch, Bölke!" winkt Bolkov ab. "Ruhe jetzt!"

Als nächstes kommt Naddel ins Bild gelaufen, sie schleicht sich langsam von hinten an mich heran.

"Das ist der Esel, Chef!" fuchtelt dieser Bölke mit dem Finger vor dem Monitor herum. "Der Esel von eben! Wie kommt der auf das Dach?"

"Mit viel Mühe, einem Seilzug und einem starken Traktor" sage ich.

Naddel stupst den Zimmermann mit der Schnauze von hinten an, er purzelt nach vorne, rappelt sich auf und geht auf Naddel zu. 'Na, du bist aber eine ganz freche' sagt der Zimmermann und fängt an, sie zu streicheln.

"Woher weiß er, dass das eine "sie" ist?" fragt dieser Bölke. "Ich wüsste das nicht. Woran sieht man das?"

"Ist doch egal, Bölke" zischt Bolkov ihn an. "Er weiß es eben. Können wir jetzt vielleicht mal in Ruhe den Film gucken?"

Naddel wird immer noch von dem Zimmermann gestreichelt. Jetzt senkt sie ihre Schnauze hinunter an seinen Schritt, schnuppert daran und versucht dann, seinen Zimmermannsgürtel mit den Zähnen zu öffnen.

"Da! Das hat er, äh, sie bei Polio vorhin auch gemacht!" sagt dieser Bölke aufgeregt. "Genau so!"

"Ist jetzt endlich mal Ruhe, Bölke!" fährt Bolkov ihn an. "Ich versuche immer noch heraus zu finden, warum jemand hundert Euro für einen Esel und einen verkleideten Bauern auf einem Dach bezahlen würde. Das kann es ja nicht sein, oder?"

Keine zehn Sekunden später weiß er es. Der Zimmermann lässt die Hose fallen, Naddel dreht ihm von allein ihr Hinterteil zu und ab dafür. Ich frage mich heute noch, wie das Dach das überhaupt ausgehalten hat.

"Nein!" ruft dieser Bölke und schlägt sich die Hand vor den entsetzt offen stehenden Mund. "Das glaub ich nicht!"

"Ich muss gestehen" dreht Bolkov seinen Kopf mit interessiertem Blick auf den Monitor abwechselnd schräg nach links und rechts. "Damit habe ich nicht gerechnet. Und ich muss mich wohl korrigieren: Bis eben gab es doch etwas, das ich noch nie gesehen hatte."

"Bäh! Das ist ja ekelhaft!" wendet dieser Bölke sich ab. "Wer macht denn so was? Sie sind doch völlig krank!"

"Im Gegenteil" lache ich ihn an. "Ich erfreue mich bester Gesundheit. Meine Tiere übrigens auch."

"Wie viele von diesen Filmen verkaufen sie so durchschnittlich?" will Bolkov wissen, ohne seinen Blick vom Monitor zu nehmen.

"Letzten Monat waren es an die hundert. Und die Zahlen steigen ständig seit ich im Internet bin."

"Sind zehntausend pro Monat, nicht schlecht. Das ist ein vollkommen neuer Markt, Bölke. Vielleicht sollten wir auch etwas in die Richtung machen. Was meinst du?"

"Also, ich mache bestimmt nichts, was auch nur entfernt in diese Richtung geht, Chef! Bei aller Liebe, aber damit will ich nichts zu tun haben. Das ist doch pervers!"

"Ach, was heißt denn schon pervers, Bölke? Hier geht es um Geld, das ist reines Geschäft. Was glauben sie, Otto?" schaut er ganz kurz zu mir und gleich wieder auf den Bildschirm. "Würden diese Leute auch noch mehr für solche Filme zahlen? Sagen wir mal, man bringt vielleicht andere Tiere ins Spiel? Exotische Tiere, zum Beispiel. Wäre das ein Grund für ihre Kundschaft mehr Geld aus zu geben?"

"Eventuell" sage ich. "Von welchen Tieren sprechen wir?"

"Ich weiß nicht genau. Wie wäre es zum Beispiel mit Affen? Was wäre es diesen Leuten wert zu sehen, wie sie es einem Schimpansen besorgen?"

Ein Schimpanse? Hat er wirklich Schimpanse gesagt? Ich wollte schon immer einen Schimpansen! Ein Schimpanse wäre der absolute Traum! 

"Ein Affe?" versuche ich meine Begeisterung zu verbergen. "Das könnte schon was bringen, hundertfünfzig pro Kassette, schätzungsweise, vielleicht sogar mehr. Aber an Affen kommt man nur sehr schwer ran."

"Das wäre kein Problem" winkt Bolkov ab. "Ein alter Freund aus Russland ist Direktor eines Wanderzirkus, der ein Mal pro Jahr durch Deutschland zieht. Affen, Bären, Lamas, was sie wollen, alles kein Problem. Was halten sie von folgender Idee? Ich besorge ihnen jedes Tier, das sie möchten, und sie beteiligen mich mit dreißig Prozent an den Einnahmen. Material- und Unterbringungskosten werden geteilt."

"Sie schlagen mir eine Partnerschaft vor, Vladimir Bolkov?" beuge ich mich nach vorne.

"Genau" grinst er mich an. "Was ist? Sind sie interessiert?"

Ein Schimpanse! Bei Gott, und wie ich interessiert bin! Unter anderen Umständen würde ich diesem Mann sofort um den Hals fallen und an mein affenartig hüpfendes Herz drücken. Aber die Umstände sind nun mal leider nicht anders.

"Ein verlockendes Angebot, Vladimir Bolkov" lehne ich mich zurück. "Sehr verlockend, das muss ich zugeben. Aber was bringt mir das, wenn ich morgen früh zusammen mit dem Rest meiner Familie tot in einem Loch hinter dem Haus liege?"

"Ach, Otto" seufzt Bolkov und schüttelt den Kopf. "Wissen sie, die Leute gucken viel zu viel Fernsehen heutzutage, so wie ihre Schwester anscheinend auch. Ich kann ihnen beim besten Willen nicht sagen, wie sie auf die Idee kommt, ich würde sie alle umbringen wollen. Was hätte ..."

"Becca hat eine sehr gute Menschenkenntnis, wenn es nicht gerade um ihre Ehemänner geht. Wenn sie ihnen nicht traut, hat das seinen Grund. Und dass Leute wie sie keine Zeugen hinterlassen ist bestimmt keine Erfindung des Fernsehens, das ist reine Logik. Also erzählen sie mir nicht, dass sie morgen kurz Koller umbringen, ihre Visitenkarte auf den Tisch legen und einfach wieder verschwinden."

"Und wenn ich genau das mache, was ist dann?"

"Dann wäre ich nicht nur sehr überrascht, sondern auch noch am Leben, was für eine zukünftige Partnerschaft sicher von beiderseitigem Nutzen wäre."

"Das stimmt allerdings. Andere Frage: Wie sehr ..."

"Chef?" unterbricht ihn dieser Bölke. "Nur kurz, ich will nicht stören, aber könnten wir den Film jetzt vielleicht aus machen? Ich muss da immer wieder hin gucken, mir ist schon ganz schlecht."

"Was denn? Der Film gefällt ihnen nicht?" grinse ich ihn an. "Möchten sie lieber etwas anderes sehen? Ich hätte da noch einiges an zu bieten. Wie wäre es mit ..."

"Chef, bitte!" fleht dieser Bölke. "Keine Tiere mehr! Das hält mein Magen nicht aus!"

Ich drücke auf Stop, der Bildschirm wird blau und Naddels lustvolles Wiehern verstummt.

"Den können wir wohl als zukünftigen Kunden vergessen" zeige ich mit einem Zwinkern zu Bolkov auf diesen Bölke, der erleichtert auf atmet. "Sie wollten noch etwas wissen?"

"Genau" sagt Bolkov. "Wegen morgen früh und unserer eventuellen Partnerschaft. Sagen sie, Otto, wie viel liegt ihnen eigentlich an ihrer Schwester?"

"Was soll das?" schaue ich ihm fest in die Augen. "Sie wollen doch nicht allen Ernstes von mir die Erlaubnis, meine Schwester zu töten? Das vergessen sie besser ganz ..."

"Nein, nein!" hebt er abwehrend die Hände in die Luft. "Wie kommen sie denn darauf? Das war nur so eine Frage."

"Fragen sie alle ihre zukünftigen Partner, ob sie vor Geschäftsabschluss ihre engsten Verwandten töten dürfen? Das ist neu, schicken sie's ans Fernsehen, die kaufen es bestimmt."

"Was ist mit Kollers Bruder?" 

"Rocket? Wieso? Was soll mit Rocket sein? Ich kenne ihn kaum. Ich habe ihn zum letzten Mal an seinem zehnten Geburtstag gesehen, das ist über zwanzig Jahre her. Wir standen uns nie ... Hey, damit meine ich aber nicht, dass sie ihn umbringen dürfen! Das hat nichts damit zu tun, okay?"

Verflucht aber auch! Einen Moment nicht auf gepasst und schon bin ich ihm doch noch auf den Leim gegangen. Und das schlimme ist, es ist tatsächlich so, dass ich zu Rocket eigentlich gar kein Verhältnis habe, wie auch? Becca wollte ihn schließlich nicht mehr hierher lassen, nachdem sein Kater damals meine Zuneigung nicht überlebt hat. 

"Aber er ist ihnen nicht so wichtig, wie ihre Schwester. Verstehe ich das richtig?"

Wenn ich mir diese Frage in aller Ehrlichkeit selbst beantworte, muss ich zugeben: Nein, Rocket ist mir bei weitem nicht so wichtig, wie Becca. Was allerdings nicht bedeutet, dass ich ihn für sie opfern würde, denn ich weiß, wie sehr sie an ihm hängt.

"Sie sind mir alle drei gleich wichtig, Bolkov" sage ich so überzeugend wie möglich. "Und ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um zu verhindern, dass ihnen etwas passiert."

"Das ist nur allzu verständlich" erhebt sich Bolkov vom Bett. "Ich fürchte nur, sie überschätzen das, was in ihrer Macht steht doch sehr. Ich schlage vor, wir vertagen die Entscheidung über unsere eventuelle Partnerschaft auf morgen. Stehen sie bitte auf."

Ich erhebe mich aus dem Stuhl, und dieser Bölke tritt hinter mich.

"Arme auf den Rücken" sagt er, packt meine Handgelenke zusammen und wickelt das Klebeband fest darum. "Die Beine auch?" fragt er, und Bolkov nickt.

"Setzen sie sich" schiebt er mich auf das Bett zu und dreht mich um.

Ich lasse mich auf das Bett fallen und strecke meine Beine in die Luft, die er ebenso fest umwickelt, bis das Klebeband aufgebraucht ist.

"Perfekt" klatscht er in die Hände, nachdem er beide Fesseln noch ein Mal geprüft hat.

"Legen sie sich hin und rutschen sie rüber" sagt Bolkov, und ich robbe auf die linke Seite des Betts. "Ich werde mir auch noch ein wenig Schlaf gönnen. Bölke, du weißt Bescheid. Mach bitte das Licht aus."

"Kein Problem, Chef" schiebt er den Stuhl ans Fenster. "Ich habe ja vorhin im Auto geschlafen. Sie können sich auf mich verlassen."

"Ich weiß, Bölke" macht Bolkov sich neben mir lang. "Das kann ich doch immer."

"Schlafen sie gut" knipst dieser Bölke das Licht aus.

Bolkov hat natürlich Recht, muss ich fest stellen, während ich versuche eine einigermaßen erträgliche Stellung mit den Händen auf dem Rücken zu finden. Was steht schon großartig in meiner Macht? Was könnte ich tun, um ihn und seine Leute überhaupt an irgend was zu hindern? Ich bin gefesselt, und das wird wohl auch so bleiben. Ob ich einen Plan hätte, wollte Becca wissen. Was glaubt sie, wer ich bin? James Bond? Sie hat mich immer für stark gehalten, klar, ich bin schließlich ihr großer Bruder. Aber es ist viel leichter, der große Bruder zu sein, wenn nicht gerade jemand versucht die gesamte Familie auszurotten. Ich habe keinen Plan, und ich bin kein Kämpfer. Und überhaupt, was habe ich eigentlich mit dieser ganzen Sache zu tun? Dein Sohn hat Mist gebaut, Becca. Das ist ganz und gar deine Angelegenheit. Klar, die Jungs hätten sich gerne bei mir verstecken können, ist doch selbstverständlich. Aber du musstest ja unbedingt diesen Büffel und seine Todesschwadron direkt hierher führen. Was hast du erwartet, Becca? Dass ich schon mit ihnen fertig werde? Dein großer Bruder wird's schon richten? Das war wohl nichts, Schwesterherz. Ich kann dir nicht helfen, nicht dieses Mal, tut mir Leid. Ich kann nur hoffen, dass es Bolkov ernst ist mit dieser Partnerschaft und somit wenigstens meinen eigenen Kopf retten. Ganz davon abgesehen, dass das tatsächlich eine Goldgrube werden könnte. Mit einem Schimpansen als Zugabe. Ein Schimpanse, bei Gott! Oh, nein, nicht jetzt, das ist nicht fair. Wer mit auf den Rücken gefesselten Händen neben einem mordlüsternen Schwerverbrecher im Bett liegt, sollte eigentlich keinen Ständer kriegen. Denk an etwas anderes, Otto. Kein Schimpanse, kein Schimpanse, kein Schimpanse. Kängurus. Ja, das ist es. Kängurus törnen mich total ab. Kängurus, Kängurus, Kängu ...

"Sie schnarchen doch hoffentlich nicht, Otto?" brummt Bolkov leise neben mir.

Gut, Büffel erfüllen auch ihren Zweck.

"Wie bitte?" dreh ich mich ihm zu. "Sie wollen wissen, ob ich schnarche?"

"Ja. Ich hasse es, wenn jemand neben mir schnarcht. Dieses Geräusch macht mich wahnsinnig. Meine Frau hat geschnarcht, Nataljas Mutter, Gott hab sie selig."

"Sie haben ihre Frau umgebracht, weil sie geschnarcht hat?"

"Nein, natürlich nicht" antwortet er. "Nicht weil sie geschnarcht hat." 

"Na, dann bin ich ja beruhigt" drehe ich mich wieder zur anderen Seite.

"Wieso? Schnarchen sie etwa?"

"Ich weiß es nicht. Sagen sie es mir morgen früh."

"Wie, sie wissen es nicht? Das weiß man doch."

"Nicht, wenn man noch nie neben jemandem geschlafen hat, der es einem für menschliche Ohren verständlich hätte sagen können."

"Sie meinen, sie haben noch nie mit einer Frau ..."

"So ist es. Nach menschlichen Maßstäben bin ich sozusagen noch Jungfrau. Aber wenn es um Tiere geht, stecke ich Casanova drei Mal in die Tasche."

"Erstaunlich." 

"Sie sollten es auch mal probieren. Es ist ein unvergleichliches Gefühl."

"Sie werden lachen, aber es gab mal eine Zeit, da ... ach, nein, lassen wir das lieber. Das ist mir dann doch zu peinlich. Ich lasse sie jetzt schlafen, Otto."

"Nein, erzählen sie ruhig. Vor mir muss ihnen nichts peinlich sein. Was war es? Eine Katze? Bei mir fing alles mit einer Katze an, ein Streuner, braun-weißes Fell, hinter unserem ..."

"Ich möchte jetzt wirklich nicht darüber sprechen, Otto. Ein anderes Mal vielleicht."

"Aber ..."

"Gute Nacht, Otto."

"Ein Hund? War es ein Hund? Es sind meistens Hunde oder Katzen, wissen sie. Das ..."

"Ich sagte, gute Nacht, Otto. Und wenn ich es noch Mal sagen muss, werden sie morgen vielleicht nicht aufwachen, verstanden?"

"Na gut, aber das kriege ich schon noch raus. Sind sie auf dem Land groß geworden? Dann könnte es natürlich auch ein Schaf ..."

"Gute ..."

"Alles klar, okay, ich bin ja schon still."

 

 

 

 

ZUGEINANDER

 

 

 

 

In "Zugeinander" gibt es nur eine Szene, die es nicht ins Buch geschafft hat. Ursprünglich hat Jane es nämlich mit Johnny Depp auf der Toilette getrieben und kommt später noch mal zu Valerie zurück. Das war nicht wirklich wichtig für die Geschichte und wurde dann durch die schwarzfahrende Oma ersetzt.

 

Diese Szene würde im Buch auf Seite 168 gleich nach "Ich rufe Max jetzt einfach auf dem Handy an und ..." anfangen.

 

"So, da bin ich wieder!"

Ich blicke von meinem Handy auf und sehe, wie eine stark angesäuerte Jane ihren Rucksack mit voller Wucht in den Sitz feuert.

Jane? Schon wieder zurück von Johnny Depp? Da muss aber etwas ganz gehörig schief gelaufen sein.

"Scheiß-Typen!" flucht sie und lässt sich demonstrativ schwer auf ihrem alten Platz nieder.

Ich lege mein Handy zur Seite und schaue sie fragend an.

"Was ist denn passiert?" will ich natürlich wissen. 

"Was passiert ist?" Jane zieht beide Augenbrauen hoch. "Der Typ ist verheiratet! Das ist passiert! Dieses Arschloch!"

Echt, verheiratet, Johnny Depp? Das hätte ich jetzt nicht gedacht. Er sah irgendwie nicht verheiratet aus. Aber okay, dann ist er eben verheiratet. Warum regt sie sich so darüber auf? So hätte ich sie gar nicht eingeschätzt. Ich dachte, ihr ging es eben nur um die schnelle Nummer mit einem verdammt gut aussehenden Kerl. Was macht es da für einen Unterschied, ob er nun verheiratet ist oder nicht? Ich meine natürlich für sie, nicht für mich, ich würde nie etwas mit einem verheirateten Mann anfangen, noch nicht mal mit einem, der eine Freundin hat, ich will nicht teilen, jedenfalls nicht den Mann, den ich liebe. Aber Jane? Bei ihr geht es doch in erster Linie um Sex, zumindest kamen ihre ganzen Geschichten so rüber. Und den hat sie schließlich bekommen. Was für einen Unterschied macht es also, dass der Typ verheiratet ist? Kapier ich nicht.

"Und?" frage ich dementsprechend. 

"Und?" wiederholt sie entrüstet, so als ob die Antwort offensichtlich auf der Hand liegen würde. 

"Ja, und?" bestätige ich meine Frage. "Was ist so schlimm daran? Ich dachte, dir ging es nur um den Sex, oder?"

"Ging es auch!" regt sie sich weiter auf. "Bis er mich seiner Frau vorstellte! Sie saß nämlich direkt neben ihm!"

"Nein!"

"Oh, doch! Das musst du dir mal reinziehen!"

Ich versuche es gerade, und als Unbeteiligte stelle ich fest, dass diese Situation sehr bizarr und somit nicht gerade unkomisch ist.

"Absoluter Hammer" sage ich und kann mir ein Kichern nicht verkneifen.

"Allerdings!" knurrt Jane. "Und überhaupt nicht witzig!"

"Sorry" sage ich und versuche mich zu beherrschen. "Keine böse Absicht."

"Ich meine" fährt sie hoch. "Wie Psycho muss man denn sein, um eine Frau, mit der man es kurz vorher noch auf der Zugtoilette gemacht hat, seiner Ehefrau vorzustellen! Der Typ ist ja wohl völlig durchgeknallt, oder? Ich meine, ich komme also an seinen Platz und setze mich ihm gegenüber und sage hallo und so und wir reden ein bisschen, von wegen Nürnberg und wo man abends so hingehen kann, und diese Kuh neben ihm gibt plötzlich ihren Senf dazu, von wegen da wäre es aber besser oder so, und ich sie nur schief angeglotzt, so nach dem Motto, wer hat dich denn gefragt, und er dann nur, das wäre übrigens Karin, seine Frau, und fängt dabei noch an unter dem Tisch mit dem Fuß an meiner Wade rumzumachen, mir ist echt alles aus dem Gesicht gefallen!"

"Heftig!"

"Allerdings war das heftig! Ich wusste überhaupt nicht mehr, was ich sagen sollte! Und er nur dumm gegrinst und weiter unter dem Tisch rumgemacht, obwohl die Frau genau neben ihm saß! Aber die war ja genauso Psycho, das war ja noch der absolute Abschuss! Ich ihn irgendwann getreten, weil mir das echt zuviel war und keine Minute später fängt sie auf einmal an mich unterm Tisch zu befüßeln! Ich dachte, ich spinne!"

"Nie im Leben! Was hast du gemacht?"

"Ich bin sofort aufgestanden und habe mir meinen Rucksack geschnappt. Und dann sagt sie doch echt noch, wenn ich auf Toilette gehe, soll ich bitte Bescheid sagen, sie käme dann gerne gleich nach! Und er gleich hinterher, da wäre auch Platz für drei und beide zwinkern mich an und ich ihnen nur noch den Vogel gezeigt und weg da. Ich meine, ich hab ja schon viel erlebt, aber die hatten ja wohl echt ein Rad ab, oder?"

"Könnte man so sagen" grinse ich.

"Das ist nicht witzig!" knurrt Jane mich wieder an.

"Doch, ist es" grinse ich weiter.

"Ja, für dich vielleicht" brummt sie, wobei sich ihre Mundwinkel doch leicht nach oben bewegen. "Du wurdest ja auch nicht gerade von einem Ehepaar angemacht."

"Ich treibe es ja auch nicht mit wildfremden Johnny Depps auf Zugtoiletten" erwidere ich zwinkernd.

"Stimmt auch wieder" zwinkert sie zurück und lässt ein Lächeln zu. "Wobei ich immer noch behaupte, dass er eher was von Tobey Maguire hatte. Zumindest bevor ich seine Frau gesehen habe. Die war alles andere als Tobey-würdig. Selten so was Durchschnittliches gesehen, völlig graue Maus. Ich meine, wenn ich jemals etwas mit einer Frau machen würde, dann müsste die schon sehr, sehr gut aussehen. Hattest du schon mal was mit einer Frau?"

Hoppla, wie kommen wir denn jetzt plötzlich auf mich? Was sind wir, beste Freundinnen? Wohl kaum. Das geht sie ja nun wohl überhaupt nichts an. Ich habe ihr sowieso schon viel zu viel erzählt und alles, was es gebracht hat, war, dass sie mich mit ihren blöden Geschichten verunsichert hat. 

"Nein" sage ich kurz und knapp.

Was zwar nicht ganz der Wahrheit entspricht, aber, wie gesagt, das geht sie absolut nichts an, und ich habe nicht die geringste Lust, mit ihr darüber zu sprechen. Es gibt auch eigentlich nichts groß darüber zu reden, das war ganz harmlos, zwei Küsse, mehr nicht. Der eine war beim ‚Wahrheit oder Pflicht' spielen, als ich vierzehn war. Ich hatte mit ein paar anderen Mädels aus meiner Klasse bei einer Freundin übernachtet, und als ich an der Reihe war und Pflicht wählte, weil ich nicht irgendwelche blöden Fragen, was man schon alles mit Jungs gemacht hat, beantworten wollte, wurde ich dazu verpflichtet, Tine zu küssen, mit Zunge, fünf Sekunden lang. Der Vorschlag kam von Michelle, das weiß ich noch ganz genau, weil Michelle Tine nicht leiden konnte und ihr damit eins auswischen wollte. Großes Gekichere, natürlich, und alle fanden Michelles' Vorschlag superwitzig. Ich versuchte irgendwie aus der Sache rauszukommen, weil mir die Vorstellung ein Mädchen zu küssen alles andere als Spaß bereitete, aber selbst mein Hinweis darauf, dass ich gerade noch dabei war, eine äußerst ansteckende Viruserkrankung zu kurieren, stieß auf taube Ohren, da musste ich wohl oder übel durch. Tine dagegen hatte sofort durchschaut, dass diese Aktion eigentlich ihr galt und blieb supercool. Sie zuckte nur gleichgültig mit den Schultern und rutschte auf den Knien in die Mitte des Kreises. Ich wurde mehr oder weniger auf sie zu geschubst und fand mich schließlich ihr direkt gegenüber. Sie rutschte noch ein Stück näher, und Michelle zählte von drei herunter und gab das Startsignal. Ich saß wie festgefroren da, beide Hände flach auf meine Oberschenkel gepresst und bewegte mich keinen Zentimeter nach vorne. Tines' Gesicht kam langsam auf mich zu, immer näher, sie guckte ganz ernst und konzentriert, wie ein Leichtathlet, der sich gerade kurz vor seinem nächsten Sprung oder Wurf befindet. Es galt eine Pflicht zu erledigen, nicht mehr und nicht weniger, und genau so sah Tine mich an. Ihre Lippen berührten meine, und ich fing an zu lachen und zog natürlich zurück. Klar, dass das nicht zählte und Michelle ein neues Startsignal gab. Ich riss mich zusammen und unsere Lippen berührten sich wieder. Meine Augen waren mittlerweile geschlossen, ebenso mein Zähne, und zwar fest. Die Mädels meckerten und buhten und Michelle bestimmte lauthals, dass die fünf Sekunden erst anfangen würden, wenn sich unsere Zungen berührten. Tine lockerte ihren Kiefer und ich spürte ihre Zunge an meine Lippen anklopfen. Ich unterdrückte abermals einen nervösen Lachanfall, was mir erstaunlich gut gelang. So eklig, wie ich es mir vorgestellt hatte, war das gar nicht, und ich gab nach. Unsere Zungen berührten sich, ohne sich zu bewegen, und die Mädels zählten laut die fünf Sekunden herunter. Die fünf war noch nicht ganz ausgesprochen, als Tine und ich uns voneinander lösten. Die Mädels grölten und johlten und ich versuchte krampfhaft nicht rot zu werden und rutschte schnell zurück in den Kreis. Michelle sah etwas enttäuscht aus, weil Tine keinerlei Anzeichen von Ekel oder Ärger zeigte, sie blieb auch hinterher total cool, und ich bewunderte sie ein bisschen dafür. Als wir dann später schlafen gegangen sind, und ich noch eine Weile wach lag, dachte ich noch mal intensiv über diesen Pflicht-Kuss nach und fragte mich, warum ich es nicht ekliger gefunden hatte, ein Mädchen zu küssen. Konnte es sein, dass ich vielleicht irgendwie ein kleines bisschen lesbisch bin? Geht das überhaupt, ein kleines bisschen lesbisch zu sein? Ich versuchte mir, mehr als einen Kuss mit Tine vorzustellen. Nein, das hatte irgendwie rein gar nichts Reizvolles und bewegte keinerlei Gefühle in mir. Okay, ich bin also nicht lesbisch, dachte ich. Ich habe nur keine allzu großen Probleme damit, ein Mädchen zu küssen, mehr nicht. Und das sollte mir etwa ein Jahr später noch mal zu Gute kommen.

Der zweite Kuss war mit Katja und passierte aus reiner Notwehr. Wir waren in dieser Disco in Kreuzberg, und sofort als wir rein kamen hingen sich zwei äußerst eklige Typen an uns ran und verfolgten uns den ganzen Abend mit den dümmsten Anmachsprüchen der Welt. Sie ließen nicht locker und waren entweder taub oder der deutschen Sprache nicht mächtig, denn sie verstanden das an sich doch sehr simple Wort ‚Nein' einfach nicht, obwohl sie es bestimmt zwanzigmal sehr deutlich zu hören bekamen. Sie ließen sich nicht freundlich abwimmeln und sie anzuschreien brachte auch nichts, sie bestanden aus einer sehr unangenehmen Mischung von Dummheit gepaart mit Hartnäckigkeit und drohten uns den ganzen Abend zu verderben, was unsere Laune bereits ganz weit runter gefahren hatte. Wir waren gerade an die Bar geflüchtet, um uns etwas zu trinken zu holen und eine Verschnaufpause zu gönnen, als ich sie schon wieder auf uns zu steuern sah. Katja verdrehte genervt die Augen und machte den Vorschlag, woanders hinzugehen, aber so schnell wollte ich mich nicht geschlagen geben. Wir standen mit dem Rücken zu den beiden Idioten und als sie fast bei uns waren, legte ich spontan meinen Arm um Katjas' Hals, zog sie zu mir heran, flüsterte kurz, sie solle einfach mitmachen und drückte meine Lippen auf ihre. Sie reagierte zum Glück sofort und ließ sich darauf ein und wir zogen einen langen und heftigen Kuss mit Zunge und allem drum und dran durch. Als wir uns danach umdrehten sahen wir gerade noch, wie die beiden Ekelpakete sich angewidert ansahen und mit einem Kopfschütteln abdrehten. Katja und ich sind vor Lachen fast auf der Theke zusammen gebrochen und hatten danach einen supergeilen Abend. Über den Kuss haben wir kein Wort verloren, nicht weil es uns etwa unangenehm war oder so, es war einfach nicht nötig und ist danach nie wieder passiert, warum auch? Dieser Kuss war lediglich ein Mittel zum Zweck, und es war gut zu wissen, dieses Mittel notfalls einsetzen zu können, falls es mal wieder solche Idioten auf uns abgesehen hätten, was aber in einer derart penetranten Form zum Glück nie wieder geschehen ist. 

"Ich auch nicht" sagt Jane. "Frauen haben mich irgendwie noch nie angetörnt. Da fehlt dann doch was ganz entscheidendes."

Sie zwinkert mir zu und fängt gleichzeitig an ausgiebig zu gähnen. 

"Ich glaub, ich mach jetzt mal ein kleines Nickerchen" jault sie. "Du bleibst doch hier, oder?"

"Klar" nicke ich. "Hau dich ruhig hin, kein Problem."

"Sehr schön" gähnt sie erneut und räkelt sich lang in ihren Sitz. "Und weck mich bitte, falls ich noch schlafe, wenn wir kurz vor Nürnberg sind, ja?"

"Ja, mach ich" antworte ich.

"Super, danke" flüstert sie kaum noch hörbar und ihre Augen fallen zu.

Gott sei dank. Ich hatte schon befürchtet, jetzt würde eine weitere Geschichte über irgendwelche sexuellen Eskapaden mit Frauen kommen. Wundert mich eigentlich, dass sie das noch nicht ausprobiert hat, aber egal, Hauptsache ich habe für eine Weile meine Ruhe.

 

 

 

 

STURMFREI

 

 

 

 

Bei "Sturmfrei" ist zwar kaum etwas wirklich rausgeflogen, im Gegenteil, es war sogar fast zu kurz. Aber gegen Ende hat sich doch so einiges geändert. Ursprünglich wurde Nico von Lea etwas härter für die Wette bestraft, als nur mit etwas Bier in der Hose...;-)

 

So, das müsste genug Zeit gewesen sein. Wenn sie jetzt nicht sofort mit mir für eine halbe Stunde verschwindet, wird es schwierig. Aber davon gehe ich mal nicht aus. Die kann schließlich mehr als froh sein, von einem Prachtkerl wie mir vernascht zu werden. Was tut man nicht alles für hundert Öcken und das gefrustete Gesicht eines Kumpels.

Ich betrete wieder den Keller und lege mein strahlendstes Lächeln auf. Sie lächelt mir entgegen, sehr gut, wusste ich's doch.

Ich setze mich ganz dicht neben sie und lege eine Hand auf ihren Oberschenkel.

"Na?" schaue ich ihr in die Augen. "Hast du über meinen Vorschlag nachgedacht?"

"Da gab's nicht viel nachzudenken" sagt sie lächelnd und nimmt meine Hand. "Aber du meinst es wirklich ernst, ja?" 

"Natürlich, absolut!" sage ich ein bisschen empört. "Was denkst du von mir? So ernst habe ich es noch nie gemeint!"

"Na ja" sagt sie verlegen. "Ich dachte ja nur. Ich meine, du bist so ein toller Typ, und normalerweise steht so jemand wie du nicht auf mich

und ..."

"Hey, das ist doch Blödsinn!" unterbreche ich sie. "Die anderen Typen haben keine Ahnung! Lass dir da bloß nichts einreden! Du bist Weltklasse, und ich kann mein Glück noch gar nicht richtig fassen, dass du mit mir ..., na, du weißt schon."

Sie rückt ganz nah an mich heran und beugt sich an mein Ohr.

"Um ehrlich zu sein" flüstert sie. "Ich kann es kaum erwarten. Komm, lass uns gehen!"

Sie steht auf und zieht mich an der Hand nach oben.

Bingo, das ist es! Das sind hundert Öcken für mich! Und eine schnelle Nummer. Ich muss zugeben, auch wenn ich sonst natürlich nie im Leben auch nur daran gedacht hätte, diese Schnalle flachzulegen, so langsam habe ich sogar richtig Bock drauf.

Ein schneller Blick zu Tommy, er guckt zerknirscht zu mir herüber, ich zwinkere ihm mit einem breiten Grinsen zu.

Lea zieht mich aus dem Keller sofort nach links. 

"Hey, wo willst du denn hin?" frage ich. "Oben ist bestimmt irgendwo ein freies Bett!"

"Zu weit" lächelt sie und öffnet eine Tür. "So lange kann ich nicht mehr warten! Los, komm, hier rein!"

Sie zieht mich in die Waschküche und schließt die Tür hinter uns.

"Okay" grinse ich. "Von mir aus auch hier."

Sie drückt mich mit dem Rücken gegen eine Wand. Ich versuche sie zu küssen, ein bisschen Zungenakrobatik macht mich erst richtig scharf, aber sie weicht mir immer wieder aus. Okay, sie will spielen, soll mir recht sein. Ich schiebe meine Hände unter ihr Oberteil, sie schlägt sie weg.

"Nicht so schnell!" grinst sie. "Erst kommst du dran."

Sie macht sich an meiner Jeans zu schaffen, öffnet den Gürtel. Ein erneuter Kussversuch, sie dreht sich geschickt weg.

"Wart's ab!" sagt sie und zwinkert mir zu. "Ein Mund ist nicht nur zum Küssen da."

Hey, die hat's aber faustdick hinter den Ohren, damit hätte ich nicht gerechnet, das ist ja fast noch besser als hundert Euro!

Sie zieht an meiner Jeans und lässt sie auf den Boden rutschen. 

"So" sagt sie lächelnd. "Und jetzt mach dich ganz locker. Was jetzt kommt, wirst du nie vergessen."

"Ich bin locker" grinse ich sie an. "Ich bin superlocker. Fang an, Baby!"

Ich schließe die Augen und stelle mir Paris Hilton vor, dieses geile Dreckstück.

Ich spüre Paris' Hände an meinem Hals, sie rutschen auf meine Schultern herunter. Jetzt halte dich nicht so lange da oben auf, weiter unten wartet die Musik darauf, gespielt zu werden.

Paris' Hände packen fest zu und umklammern meine Schultern. Hä? Was soll das denn werden? Ich dachte, sie ...

Leas' Knie rammt mit voller Wucht von unten zwischen meine Beine und lässt Paris Hilton ohne Vorwarnung explodieren. Ich habe nicht mal Zeit, mich auf diesen Schmerz vorzubereiten. Dieser unaussprechliche Schmerz, der mir jedes Fünkchen Luft aus dem Körper presst und mich wie einen nassen Sack auf dem Boden zusammen klappen lässt. Ich schnappe nach der Kraft zu schreien, um dem Schmerz etwas entgegenzuhalten, aber es kommt nur ein krampfhaftes Stöhnen zustande.

Lea steht über mir und grinst überlegen dreckig.

"Und?" fragt sie hämisch, wobei ihre Stimme nur ganz leise durch die höllischen Schmerzen in meinem Unterleib dringt. "War's für dich genauso schön, wie für mich?"

Du miese Schlampe! Du verfluchte, dreckige, miese, hässliche Schlampe! Genau das würde ich ihr jetzt antworten, wenn ich nur könnte. Scheiße, hört das auch irgendwann mal wieder auf so verflucht weh zu tun? Ich japse immer noch nach Luft.

"Kleiner Tipp für die Zukunft" sagt Lea. "Wenn du es wieder mal so richtig Ernst mit einer meinst, frag sie vorher, ob ihr IQ unter ihrer Schuhgröße liegt. Dann tut's auch hinterher nicht so weh."

Sie zwinkert mir noch mal hämisch zu, verlässt die Waschküche und schließt die Tür mit einem lauten Knall.

Ja, verpiss dich! Blöde Schlampe, blöde! 

Ich versuche mich aufzurichten, langsam kriege ich auch wieder ein bisschen Luft. Au, nein, scheiße, das geht immer noch nicht. Ich bleibe zusammen gekrümmt liegen und versuche ruhig und tief den Schmerz langsam weg zu atmen.

So ein verfluchter Mist aber auch! Wieso ist die denn so ausgetickt? Ich habe doch gar nichts gemacht, im Gegenteil, ich wollte ihr ja nur was gutes tun, sozusagen. Fuck, und die hundert Öcken kann ich natürlich auch abschreiben. Obwohl, ich bin ja mit ihr raus, und Tommy hat es genau gesehen. Wie lange waren wir hier drin? Nicht sehr lange, ein paar Minuten, höchstens. Ob ich ihm das als sehr schnellen Quickie verkaufen kann? Er wird sie ja wohl kaum darauf ansprechen. Einen Versuch ist es wert, dann hätte ich wenigstens die hundert Euro, als Schmerzensgeld sozusagen. Aber dazu muss ich jetzt auch möglichst schnell hier raus, sonst wundert er sich, warum sie schon wieder zurück ist und ich noch nicht.

Ich versuche wieder mich aufzurichten, aber sobald ich meinen Körper gerade strecken will, schlägt der Schmerz wieder zu. Das ist echt ...

Oh, scheiße, die Tür öffnet sich! Hoffentlich ist es nicht diese Verrückte, um mir noch einen Nachschlag zu verpassen.

"Ey, Alter, alles klar bei dir?"

Mist, ausgerechnet Tommy! Soviel zu meinem Schmerzensgeld. Die Story mit dem Quickie kann ich jetzt vergessen, die kauft er mir in diesem Zustand nie ab.

"Sieht das so aus, als ob alles klar wäre?" presse ich gequält heraus. "Diese blöde Schlampe hat mir in die Eier getreten!"

"Was, echt?" sagt Tommy und fängt an zu kichern. "Wieso das denn?"

"Was weiß ich denn!" erwidere ich gereizt. "Weil sie nicht mehr ganz sauber ist, deswegen! Das ist jedenfalls alles andere als witzig, du Arschloch!"

"Kommt ganz auf die Perspektive an" kichert er weiter. "Deine Rühreier bedeuten für mich satte hundert Euro, und das finde ich dann schon sehr witzig!"

Oh, Mann, das war ja so was von klar. Das kriege ich jetzt noch die nächsten hundert Jahre unter die Nase gerieben, verfluchter Mist aber auch! Diesen Triumph gönne ich ihm einfach nicht, und er hat ihn auch nicht verdient! Jede andere hätte sich liebend gerne von mir flachlegen lassen, es war nur Glück, dass er gerade diese durchgeknallte frigide Kuh ausgesucht hat! 

"Und?" lacht er und zeigt zwischen meine Beine. "Glaubst du, die Dinger funktionieren überhaupt noch?"

"Klar" raffe ich mich zu einem fiesen Grinsen auf. "Die funktionieren immer. Kannst ja Moni fragen, die weiß genau, wie gut die funktionieren."

Das musste jetzt einfach sein, genau für solch einen Fall habe ich mir diesen Trumpf aufgehoben.

Das Grinsen verschwindet ruckartig aus Tommys' Gesicht.

"Nein" schüttelt er langsam den Kopf. "Das hast du nicht ... Nicht meine Schwester ..."

"Oh, doch!" erwidere ich und schaffe es sogar endlich, mich wenigstens hinzusetzen. "Und ich kann dir sagen, dein kleines Schwesterchen hat da ein paar Sachen drauf, da schlackern dir die ..."

Tommy tritt zu. Und wieder trifft es mich genau zwischen den Beinen. Und wieder klappe ich zusammen. Wenigstens habe ich es diesmal nicht weit bis zum Boden. Ich kippe einfach zur Seite. Man sollte meine, man gewöhnt sich an den Schmerz, aber das ist nicht so. Immerhin finde ich diesmal die Luft zum Schreien. Ich jaule laut los. 

"Ich hab's dir gesagt!" brüllt Tommy von oben. "Lass die Finger von meiner Schwester, habe ich gesagt! Du verdammtes Arschloch!"

Er holt erneut aus, trifft aber nur meinen Hintern.

"Wir sind die längste Zeit Freunde gewesen!" brüllt er weiter. "Und deine Scheiß hundert Euro kannst du dir sonst wo hin stecken! Ich will nie wieder was mit dir zu tun haben, du mieses Stück Scheiße!"

Er holt noch einmal aus, zieht aber zurück und stapft aus der Waschküche.

Na also, presse ich als Gedanken zwischen die Höllenschmerzen, wenigstens das mit den hundert Euro hat sich somit erledigt.

 

Dementsprechend ging es dann auch aus Leas' Sicht folgendermaßen weiter:

 

"Kleiner Tipp für die Zukunft. Wenn du es wieder mal so richtig Ernst mit einer meinst, frag sie vorher, ob ihr IQ unter ihrer Schuhgröße liegt. Dann tut's auch hinterher nicht so weh."

Fast, aber nur fast könnte er mir ja leid tun, wie er sich da auf dem Boden windet. Tut er aber nicht, er hat es nicht anders verdient. Nicht, dass ich anderen Leuten gerne Schmerzen zufüge, im Gegenteil. Aber ich muss zugeben, das tat eben richtig gut. Und vielleicht überlegt er es sich jetzt das nächste Mal bevor er so eine bescheuerte Wette abschließt. Wahrscheinlich aber auch nicht, solche Typen lernen es wohl nie.

Ich verlasse die Waschküche und gehe zurück in den Partyraum.

Tommy steht immer noch an der Anlage mit dem Rücken zum Rest. Ich gehe zu ihm und klopfe ihm auf die Schulter. Er dreht sich um.

"Aha, Miss Verräterin!" pflaumt er mich an. "Ich dachte, wir hätten einen Deal! Konntest wohl ..." 

"Deine hundert Euro liegen nebenan in der Waschküche" unterbreche ich ihn. "Sie sind untenrum etwas ramponiert, geh lieber mal rüber und guck nach ihnen."

"Hä? Was? Wer ist ramponiert?"

"Geh einfach rüber, okay?"

Er flitzt aus dem Keller. Ich setze mich wieder auf die Couch, packe meinen Tabak aus und drehe mir erstmal eine. 

Ich gucke mich um. Es ist voller geworden. Aber Benny und die Heyderich sind noch nicht wieder da. Will ich mir vorstellen, was sie aller Wahrscheinlichkeit gerade machen? Nein, nicht wirklich. Das Thema ist gegessen. Benny ist gegessen. Er hat mich angelogen und er steht auf Tussis. So jemanden kann ich nicht lieben. Abhaken. 

Ich zünde gerade meine Zigarette an, als Tommy zurück kommt. Mann, sieht der angefressen aus. Er schaut sich hektisch im Raum um. Jetzt geht er mit großen Schritten auf seine Schwester zu, die am Tisch sitzt. Er packt sie am Arm, zieht sie zu sich hoch und ein Stück vom Tisch weg in eine Ecke und flüstert ihr mit wütendem Blick etwas ins Ohr.

"Ey, das geht dich mal überhaupt nichts an!" erwidert Moni laut und reißt sich von ihm los.

"Und ob mich das was angeht!" zischt er sie an und packt wieder ihren Arm. "Ich bin dein Bruder!"

Hey, da ist ja die Heyderich wieder! Sie steht mit einer roten Flasche in der Tür, und sie sieht ziemlich fertig aus. Wo hat sie denn Benny gelassen?

"Ja, und?" reißt sich Moni wieder lautstark von ihrem Bruder los. "Deswegen geht es dich noch lang nichts an, mit wem ich Sex habe!"

"Wenn es mein bester Kumpel und ein verdammter Rumficker ist, geht mich das sehr wohl was an!" brüllt Tommy sie an.

Aha, ein weiteres Opfer auf Tommys Liste. Aber okay, da hat es gepasst, bei der stimmt der IQ wenigstens.

"Scheißegal mit wem!" brüllt sie zurück. "Das ist ganz allein meine Sache! Und wenn ich es hundert Mal mit Nico gemacht hätte, es geht dich nichts an, kapiert?"

Die Heyderich nimmt einen tiefen Schluck von dem roten Zeug und geht langsam schwankend auf die beiden Streithähne zu. Moni steht mit dem Rücken zu ihr, Tommy ist zu sehr mit Schreien beschäftigt, um sie zu bemerken.

"Du bist noch viel zu jung für Sex!" brüllt Tommy wieder. "Du bist meine kleine Schwester, verdammt! Und Nico meint es sowieso nicht ernst, mit keiner!"

"Ach, komm?" erwidert sie lachend. "Echt nicht? Das ist ja ein Ding! Und ich habe gedacht, er heiratet mich, wir kriegen Kinder und werden zusammen alt!"

Die Heyderich steht jetzt direkt hinter Moni und tippt ihr auf die Schulter.

"Ja, was denn?"

Moni dreht sich gereizt um und kriegt im selben Moment von der Heyderich eine volle Ladung des roten Zeugs mitten ins Gesicht gespuckt. 

"Du blöde Schlampe" sagt die Heyderich noch, dreht sich um und schwankt aus dem Keller.

"Das sagt ja die richtige!" brüllt Moni ihr hinterher. "Verpiss dich, du arrogante Fotze!"

"Hey, nicht solche Ausdrücke!" schreit Tommy sie an.

"Ach, fick dich doch selbst!" schubst sie ihn weg und setzt sich wieder an den Tisch.

Okay, ich muss meine Meinung revidieren. So schlimm sind Partys gar nicht, zumindest nicht, wenn sie so ein Unterhaltungsprogramm bieten. Typen, die von Frauen und Schwestern keine Ahnung haben, Tussis, die sich anspucken, das ist echt zu köstlich. Ich glaube, ich bleibe noch ein bisschen, vielleicht wird ja noch mehr geboten.

 

Und dann wäre da noch Denise, für die der Abend ebenfalls ein bisschen anders endet, als im Buch:

 

Du blödes Miststück! Das glaub ich ja wohl jetzt echt nicht. Moni hat es mit Nico gemacht. Und sie hat mir keinen Ton davon gesagt. Na warte, das wirst du mir büssen. 

Ich fülle meinen Mund mit Erdbeer-Lime, gehe auf sie zu, tippe ihr auf die Schulter und spucke ihr die volle Ladung mitten in ihre blöde Fratze.

"Du blöde Schlampe" sage ich noch, drehe mich um und bin weg, bevor sie noch richtig weiß, was passiert ist.

Das reicht, ich habe echt genug von dieser Scheiß-Party. Erst Nico mit der EMO-Schnalle, dann das Fiasko mit dem Loser und jetzt erfahre ich auch noch so ganz nebenbei, dass es meine angeblich beste Freundin mit ausgerechnet dem Typ, auf den ich es abgesehen hatte, getrieben hat.

Ich muss hier raus und zwar schleunigst. Wenn sich nur nicht alles so drehen würde. Eins steht fest: Nie wieder Alkohol! 

Ich öffne die Haustür, schwinge sie kräftig hinter mir zu und laufe los. 

Nur weg hier. Die können mir echt alle mal gestohlen bleiben. Morgen suche ich mir eine neue beste Freundin. Und dann ... Oh, shit! Was ist das denn jetzt? Ich verliere das Gleichgewicht. Scheiß-Schuhe! Ich versuche mich noch abzufangen, umsonst. Ich lande auf dem Rasen. Aua, genau auf die Hüfte! Verfluchter Mist aber auch! Hoffentlich ist meinem Rock

nichts ...

"Na, Süße" ertönt plötzlich eine Stimme über mir. "Probleme mit der Schwerkraft?"

Ich drehe meinen Kopf nach oben. Oh, scheiße, wo kommt der denn auf einmal her?

"Na, klasse!" sage ich. "Du hast mir ja gerade noch gefehlt!"

"Das freut mich zu hören" grinst er mich an. 

"Komm, verpiss dich" erwidere ich genervt. "Lass mich in Ruhe."

"Hey, warum denn so unfreundlich auf einmal? Das hat sich vorhin aber noch ganz anders angehört."

"Ich glaube, da verwechselst du mich mit deiner neuen Flamme. Ich war die, der du gesagt hast, sie soll verschwinden und mit sich selbst tanzen." 

"Oh, das!" sagt er und kratzt sich verlegen am Kopf. "Erinnere mich bloß nicht daran. Würdest du mir glauben, wenn ich sage, das war eine rein geschäftliche Angelegenheit?"

Ja, genau, geschäftlich. Verarschen kann ich mich alleine.

"Mit Sicherheit nicht" antworte ich. 

"Nee, echt jetzt!" wehrt er sich. "Es ging um ne Wette, sonst nichts! Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich freiwillig was mit dieser Schreckschraube anfangen würde. Vor allem nicht, wenn so ein Prachtstück wie du in der Nähe ist. Glaub mir, ich hätte mich viel lieber ausführlich mit dir beschäftigt, aber es ging um jede Menge Kohle."

So, so eine Wette also. Gut, das würde einiges erklären. Trotzdem hätte er mich ja nicht so mies abblitzen lassen müssen.

Er streckt mir seine Hand entgegen, um mir hoch zu helfen. Ich greife sie, er zieht mich nach oben und ganz dicht an sich heran.

"Und?" frage ich und zupfe Gras von meinen Armen. "Hast du gewonnen?"

"Nein" antwortet er. "So würde ich das nicht unbedingt nennen. Aber vielleicht gibt es ja jetzt noch was für mich zu gewinnen?"

Aha, so läuft der Hase also. Der macht es sich ja ganz schön leicht. Na ja, er kann es sich auch leisten. Und, hey, warum nicht? Dann hätte dieser Abend doch noch ein gutes Ende und ich genau das, was ich sowieso die ganze Zeit wollte. 

"Ich weiß nicht" lächle ich ihn herausfordernd an. "Was schwebt dir denn da so vor?"

"Ach, weißt du" grinst er und schiebt mich ein paar Schritte rückwärts. "Ich hätte da schon so eine Idee."

Die Rückwärtsbewegung stoppt mit einem Baum in meinem Rücken.

"Und die wäre?" frage ich.

"Na ja" lächelt er und rückt dabei meinem Mund immer näher. "Wie wäre es denn zum Beispiel hiermit für den Anfang?"

Er küsst mich, und dieser Kuss zeigt sofort, wo es lang gehen soll. Kein albernes Rumgespiele, gleich zur Sache. Das kann ich auch. Ich packe seinen Hals mit einer Hand und dränge ihm entgegen, als er plötzlich das Küssen abbricht. 

"Bäh!" sagt er und verzieht angeekelt das Gesicht. "Wonach schmeckt das denn?"

"Erdbeer-Lime?" frage ich unschuldig.

"Nein, das wüsste ich" schüttelt er den Kopf. "Hast du etwa gekotzt?"

Mist! Ich dachte, das wäre mittlerweile weg. 

"Ein bisschen" gebe ich zu. "Nur ganz wenig."

"Dann eben ohne Knutschen" sagt er, schnappt mich an beide Schultern und dreht mich um.

"Hey, nicht so grob!" beschwere ich mich.

"Ja, ja, sorry!" erwidert er. "Stell dich nicht so an!"

Er zieht mir den Slip herunter, ich höre, wie er seinen Reißverschluss öffnet und näher an mich heran rückt.

"Warte!" sage ich. "Ich hab Kondome dabei!"

"Schön für dich" brummt er und dringt in mich ein. "Wirst sie bestimmt mal brauchen."

Na gut, dann eben wieder ohne. Wofür schleppe ich diese Dinger eigentlich immer mit mir rum? 

Er fängt an sich hinter mir einen abzukeuchen, ich versuche in Stimmung zu kommen. Er hält von hinten starr meine Brüste umklammert, was soll das denn bitteschön bringen? Da hätte ich schon etwas mehr erwartet. Und da ist auch überhaupt kein Rhythmus zu erkennen.

"Nicht so schnell" beschwere ich mich. 

"Schnauze!" blafft er mich an. "Ich muss mich hier konzentrieren!"

Ja, fragt sich nur auf was? Auf mich jedenfalls nicht. 

Er wird immer schneller, stöhnt plötzlich los wie ein lungenkrankes Zebra und hört auf.

Wie, das war's schon? Das kann nicht sein Ernst sein. Wie lange hat das jetzt gedauert? Eine Minute? Da war ja der Loser besser drauf.

"Na also" sagt er und tritt einen Schritt zurück. "Geht doch noch. Danke, Süße."

Ich drehe mich um, vergesse aber, dass mein Slip noch zwischen meinen Füßen hängt und knalle der Länge nach auf den Boden.

"Oh, Mann!" fängt er laut an zu lachen. "Ich habe ja schon so einige umgehauen, aber so hat's noch keine zerissen! Du solltest nicht so viel saufen, Süße! Dann findest du vielleicht auch mal einen, der dich küssen will! Mach's gut, und viel Spaß noch!"

Er lacht dreckig weiter und geht auf das Gartentor zu. Ich glaub, ich seh nicht richtig! Das kann er doch nicht machen! Ich meine, hallo? Behandelt man so eine Frau, mit der man es gerade gemacht hat? 

"Hey!" rufe ich ihm hinterher. "Und was ist mit mir?"

"Du warst klasse, Baby!" ruft er noch zurück und dann ist er verschwunden.

Wie jetzt? Das ist alles? Ich war klasse? Ich habe überhaupt nichts gemacht, du Arschloch! Wenn ich mich kurz vorher zur Seite geschoben hätte, hättest du den Baum gefickt, ohne es zu merken! Ich fass es nicht! Und dafür habe ich mich den ganzen Tag lang verrückt gemacht? Für nichts? Ist ja kein Wunder, dass Moni davon nichts erzählt hat! Da gibt's nichts zu erzählen! Das war der mieseste Sex, den ich je hatte! Da lasse ich mich ja lieber noch voll kotzen! Scheiße!

Ich ziehe meinen Slip hoch und stehe auf. Alles was ich jetzt noch will, ist nach Hause. Ich laufe los, nach zwei Schritten versinkt mein Absatz in einem Erdloch und ich falle wieder hin. Au, mein Knie, verdammt! Jetzt reicht's aber langsam echt mal! Wieso läuft denn heute alles, aber auch wirklich alles schief? Das hab ich echt nicht verdient! Oh, nein, bitte nicht, nicht auch das noch! Ich betaste meinen Rock. Wenn das ein Riss ist, flippe ich aus. Oh, Mann, nein, das ist ein Riesen-Riss! Und auf der anderen Seite ist ein großer Grasfleck! Das Teil ist völlig im Arsch, das kriegt meine Mum nie wieder hin! Dieser verfluchte, verdammt Mist-Abend! Alles ist kaputt! Nico ist kaputt, Moni ist kaputt, mein Knie ist kaputt, der Rock, einfach alles! Ich könnte heulen!

Ich lasse mich seufzend nach hinten auf den Rasen sinken. Nein, du wirst jetzt nicht heulen, Denise! Du heulst nie! Nichts ist es wert, dass man deswegen heult! Die ersten Tränen kullern über mein Gesicht. Scheiß drauf. Nach so einem Abend kann man ruhig mal heulen, sieht ja schließlich keiner.

 

 

 

 

AUSGEFLOGEN

 

 

 

 

 

Wirklich rausgeflogen ist bei "Ausgeflogen" eigentlich nichts. Ich hatte nur in der allerersten Fassung noch folgende Szene drin, die beschreibt, was genau am Zoo passiert. Richtig wichtig ist das nicht, deswegen wurde es später auch weg gelassen. Aber wozu gibt es schließlich den Writer's Cut ... ;-)

 

Die Szene käme im Buch zwischen Kapitel 8 und 9, also ab Seite 146. Viel Spaß beim Lesen!

 

"Könntest du mir das vielleicht beibringen?" fragt Tessa, die neben Furunkel vor Bönicke und mir her läuft.

"Kung-Fu?" fragt Furunkel zurück. "Ich weiß nicht. Da braucht an normalerweise Jahre für, bis man soweit ist, wie ich."

"Nur zwei, drei Griffe, das würde schon reichen. Ich will ja nicht an Wettkämpfen teilnehmen, oder so. Nur ein bisschen zur Selbstverteidigung."

"Na ja, es gäbe da schon ein paar Sachen, die ich dir zeigen könnte."

"Oh, cool! Das wäre echt klasse! Wann können wir anfangen?"

"Keine Ahnung, wann du willst, morgen, von mir aus."

"Okay, super, gerne!"

"Es gibt da zum Beispiel diesen einen Griff, damit könntest du sogar mich umwerfen."

"Ich, dich? Quatsch! Nie im Leben!"

"Doch! Und der ist gar nicht so schwer."

"Ja!" lacht Bönicke leicht gequält. "Wenn man zufällig eine Dampfwalze dabei hat!"

"Ha, ha! Sehr witzig, Stefan!" dreht sich Tessa zu uns um. "Ich meine das echt ernst, ich will das lernen!" 

"Sollst du ja auch, Hexchen", verdreht Bönicke die Augen. "Man wird doch wohl noch einen Witz machen dürfen."

"Nicht über meinen zukünftigen Trainer!" grinst sie und wendet sich wieder an Furunkel. "Was ziehe ich denn da am besten an? Einfache Sportklamotten?"

Einen dicken Wintermantel, wenn es nach mir ginge. Ich weiß nicht, aber irgendetwas gefällt mir überhaupt nicht an der Sache. Die Vorstellung, dass Furunkel ihr was weiß ich für Griffe zeigt und sie dabei anfasst und so weiter, verursacht ein fieses Ziehen in meinem Magen. Oder ist das vielleicht das Bier? Ich meine, grundsätzlich ist das auf jeden Fall eine gute Idee mit dem Kung-Fu lernen. Mädchen sollten sich verteidigen können, Tessa ist das beste Beispiel dafür. Und es geht mich ja auch überhaupt nichts an. Trotzdem, ich wünschte, ich könnte Kung-Fu, damit ich derjenige wäre, der es ihr beibringt, nicht Furunkel. Das ist hundert Pro das Bier. So komische Gedanken hatte ich noch nie, ich muss irgendwie betrunken sein.

"Sind wir bald mal da?" nörgelt Bönicke, der sich zwar nicht mehr auf mich stützt, aber immer noch sehr unrund läuft.

"Da ist doch schon der Zoo", sagt Tessa und zeigt nach vorne.

"Tatsache, Gott sei Dank!" seufzt Bönicke erleichtert. "Ich muss mich unbedingt mal hinsetzen."

Wir erreichen den Eingang des Zoos und Bönicke lässt sich an einer Mauer langsam auf den Boden gleiten.

"Ah, das tut gut!" 

"Und jetzt?" fragt Furunkel. 

"Nichts, und jetzt" antwortet Bönicke. "Jetzt warten wir hier, bis die anderen raus kommen."

"Ich dachte, wir gehen rein?" erwidert Furunkel und schaut mich an. "War das nicht euer toller Plan? Wir gehen rein und mischen uns da irgendwo zwischen den Rest?"

Hm, mal nachdenken. War das der Plan? Ich weiß es gar nicht mehr, heute morgen scheint so ewig weit weg zu sein. Aber doch, könnte hinkommen, so war es wohl geplant. 

"Das ist doch Schwachsinn!" sagt Bönicke. "Sollen wir jetzt etwa noch alle Eintritt bezahlen? Die kommen doch eh bald raus, und dann hängen wir uns einfach hinten dran und fertig. Oder hat jemand einen besseren Vorschlag?"

Stimmt eigentlich. Daran hatte ich nicht gedacht, der Eintritt. War dann doch nicht so perfekt wie ich dachte, mein toller Plan. Egal, Hauptsache, es funktioniert irgendwie. 

"Klingt okay für mich", sage ich und setze mich neben Bönicke.

"Aber wir müssen aufpassen", sagt Tessa und späht Richtung Eingang. "Nicht, dass die Müller auf einmal vor uns steht. Kommt, wir warten lieber da links neben dem Eingang. Von da aus sehen wir eher, wenn jemand kommt."

"Oh, Mann gerade, wo ich so schön gesessen habe", stöhnt Bönicke.

"Da drüben kannst du auch sitzen", sage ich, stehe auf und helfe ihm nach oben.

Wir gehen rüber zum Eingang, als ich plötzlich die Müllerin an der Spitze eines Pulks von Schülern kommen sehe.

"Scheiße, da sind sie schon!" zische ich. "Los, schnell!"

Wir rennen das letzte Stück und drücken uns neben dem Eingang an den Zaun.

"Wenn sie uns sieht sind wir geliefert" flüstert Furunkel. 

"Wird sie schon nicht", sagt Bönicke. "Sobald die ersten hier vorbei sind, mischen wir uns dazwischen."

"Am besten einzeln", nickt Tessa. "Hängt euch sofort an jemanden, den ihr kennt und der euch decken kann."

"Ja, das ist gut", stimme ich zu. "Achtung, da kommen sie!"

Die Müllerin läuft an uns vorbei, ist aber zum Glück in ein Gespräch mit Schöller vertieft. Jetzt kommen die anderen in einer großen Gruppe.

Tessa verschwindet zuerst in der Masse und hängt sich an ein Mädchen, das ich nicht kenne. Jetzt Bönicke. Er packt Kevin am Kragen und redet im Gehen auf ihn ein. Ich sehe Tobi auf der anderen Seite des Pulks und starte. Als ich mittendrin bin, drehe ich mich noch kurz um. Sehr gut, Furunkel ist auch weg, scheint ja alles geklappt zu haben.

Bei Tobi angelangt, tippe ich ihn auf die Schulter.

"Moritz!" ruft er überrascht. "Hey, wo kommst du denn auf einmal ..."

"Nicht so laut!" zische ich. "Wenn die Müllerin fragt, war ich den ganzen Tag dabei, okay?"

"Geht klar", nickt er. "Aber wo ..."

"Und Tess ... und Miss Gruft auch!" füge ich hinzu. 

"Miss Gruft? Was hast du denn mit der zu ..."

"Und Bönicke und Furunkel auch, okay?"

"Hä? Bönicke und der Fettsack? Was ..."

"Frag nicht, ich erklär's dir später! Hat die Müllerin eine Namensliste?"

"Nein", schüttelt Tobi den Kopf. "Aber sie hat zweimal durchgezählt."

"Mist, das wird ..."

"Stopp!" unterbricht mich die Stimme der Müllerin. "Alle mal stehen bleiben! Ich zähle noch mal durch, ob auch alle da sind!"

"Die fünften Klassen hier zu mir rüber!" ruft Schöller und entfernt sich ein paar Schritte von der Müllerin. "Kommt bitte alle hierher!"

Die Kleinen folgen seinem Ruf und die große Gruppe lichtet sich.

"Nicht so wild durcheinander!" ruft die Müllerin. "Stellt euch bitte so hin, dass ich zählen kann! Alle mit dem Gesicht zu mir! Ein bisschen mehr Ordnung, bitte!"

Die Gruppe rückt enger zusammen und alle drehen sich zur Müllerin. Mist, jetzt stehe ich auf einmal in der ersten Reihe. Ich schaue mich nach den anderen um. Bönicke steht in der Mitte, Furunkel ganz hinten, Tessa sehe ich nicht.

"Ja, schon besser!" sagt die Müllerin. "Also, eins, zwei , ..."

Sie fängt links außen an und zählt stumm immer von vorne nach hinten. Gleich müsste sie bei Furunkel sein, die erste Hürde. Oh, Mist, sie stockt. Ihre Stirn legt sich in Falten und sie tippt sich mit dem Zeigefinger ans Kinn. 

"Matthias von Runkel?" sagt sie skeptisch. "Seltsam. Ich kann mich nicht daran erinnern, dich heute schon mal gesehen zu haben."

Verdammt, ich wusste es. Wenn einer auffällt, dann Furunkel.

"Das ist allerdings seltsam, Frau Müller", sagt Furunkel, "denn ich bin im Allgemeinen doch sehr schwer zu übersehen."

Ein Kichern durchzieht die Gruppe.

"Nein, jetzt mal im Ernst", grübelt die Müllerin weiter, "ich könnte schwören, du bist mir weder heute morgen in der S-Bahn, noch irgendwo im Zoo unter die Augen gekommen."

Verdammt, warum sagt denn keiner was? Er sollte sich doch jemanden suchen, der ihn deckt. Vielleicht hat er niemanden gefunden, Mist. Und wenn ich jetzt etwas sage, fällt die Aufmerksamkeit natürlich sofort auf mich. Ach was, auch egal. Furunkel hat uns schließlich allen den Arsch gerettet. Wird schon schief gehen. 

"Klar war der Fettsack im Zoo!" rufe ich laut. "Ich hab genau gesehen, wie sich das eine Nilpferd in ihn verliebt hat!"

Tosendes Gelächter reihum. Genau so war das geplant. Selbst die Müllerin kann sich ein Lächeln nicht verkneifen, versteckt es aber hinter ihrer Hand.

"Na gut", reißt sie sich zusammen. "Dann habe ich mich wohl geirrt. Also, wo war ich? Elf, zwölf ..."

Sie zählt stumm weiter und ich atme tief durch. Damit hätte ich es wohl auch geschafft. Sie hat noch nicht mal irgendwie gezögert, als sie mich angeguckt hat. Manchmal hat es eben doch durchaus seine Vorteile, zu den Unscheinbaren zu gehören.

"Stefan Bönicke!" unterbricht die Müllerin das Zählen erneut. "Du warst aber mit absoluter Sicherheit nicht mit im Zoo! Dafür war es viel zu ruhig!"

Mist, jetzt wird's ernst. Da kommen wir nicht so leicht raus wie bei Furunkel.

"Ach, Frau Müller", seufzt Bönicke, "jetzt enttäuschen Sie mich aber. Wissen Sie überhaupt, wie weh das tut, von Ihnen nicht beachtet zu werden? Und dass, obwohl ich mir gerade heute besonders viel Mühe gegeben habe, nicht unangenehm aufzufallen. Muss ich denn immer erst jemanden verprügeln, damit Sie Notiz von mir nehmen?"

"Wie? Was?" stammelt die Müllerin verwirrt. "Nein, natürlich nicht! Das wollte ich damit natürlich nicht ..."

"Er ... er war die ganze Zeit dabei, Frau Müller!" sagt der Junge, der direkt neben Bönicke steht.

"Ja", nickt ein anderer. "Ich ... ich habe heute morgen in der S-Bahn sogar neben ihm gesessen."

"Und ich in der U-Bahn!" fügt ein dritter hinzu.

Bönicke grinst zufrieden. Das nenne ich eine effektive Deckung, er hat seine Jungs wirklich im Griff.

"Oh ... Ja, ich ... Nein, ich meine ...", stammelt die Müllerin wieder. "Wenn das so ist, dann ... Das tut mir natürlich Leid, Stefan. Ich ... Ich weiß auch nicht, was heute mit mir los ist, muss wohl das Wetter sein, Entschuldigung." 

Perfekt, jetzt nur noch Tessa, dann haben wir's geschafft.

"Wo war ich?" runzelt die Müllerin die Stirn und kratzt sich am Hinterkopf. "Ich weiß es nicht mehr. Das ist anscheinend wirklich nicht mein Tag. Also, noch mal von vorn. Eins, zwei, drei ..."

"Gertrud?" unterbricht sie Schröder laut rufend. "Bist du soweit? Wir müssen los, sonst wird das mit der S-Bahn sehr knapp!"

"Ich ... Ja, Moment!" ruft die Müllerin ärgerlich aus ihrer Konzentration gerissen. "Fünfzehn … Nein, verflixt! Jetzt bin ich wieder raus! Ach, wisst ihr was? Es reicht, wir kürzen das ganze jetzt ab. Ist irgendjemandem aufgefallen, dass einer fehlt?"

Ein kollektives Kopfschütteln beantwortet ihre Frage.

"Keiner? Alle da?" versichert sie sich noch mal. "Gut, dann los! Und immer schön zusammen bleiben!"

Sie schließt zu Schröder auf und wir setzen uns langsam in Bewegung. Ich drehe mich um und sehe Furunkel weiter hinten. Er sieht mich auch, streckt mir kurz einen erhobenen Daumen entgegen und formt ein lautloses Danke mit den Lippen. Gern geschehen, keine Ursache, jederzeit wieder. Ein Blick zu Bönicke, er zwinkert mir zu, ich zwinkere zurück. Verdammt, wo ist Tessa nur? Ah, da drüben läuft sie. Aber sie guckt nicht zu mir. Hey, hier bin ich! Ich will sie wenigsten mal kurz lächeln sehen, damit ich weiß, das alles okay ist. Mist, sie schaut einfach nicht hier rüber. Sie quatscht mit dem Mädchen, zu dem sie vorhin gelaufen ist. Hallo, hier drüben! Nur mal kurz gucken, bitte! Nichts, verdammt. Bin ich ihr denn nach allem, was wir heute zusammen erlebt haben, nicht mal einen kurzen Blick wert? Das wäre sehr, sehr schade. Und gerade von ihr hätte ich das nicht erwartet. Ich dachte echt, wir wären uns irgendwie näher gekommen, und damit meine ich jetzt nicht die Tatsache, dass sie in meinem Arm gelegen hat. Ich mag sie. Ja, genau: ich mag sie. Das wird mir gerade klar. Sie fehlt mir plötzlich irgendwie und ich mag sie. Und ich dachte, sie mag mich auch, ein bisschen wenigstens. Aber das war anscheinend in einer anderen Welt, so wie der ganze Tag heute irgendwie eine andere Welt war, fast schon wie ein Film, wenn es nicht alles wirklich passiert wäre. Im Film gäbe es jetzt natürlich ein Happy-End. Tessa würde auf mich zulaufen, ihre Arme um meinen Hals schlingen und wir würden uns bis in den Abspann hinein küssen. Aber das ist nun mal leider kein Film, und in dieser Welt gibt es kein Happy-End, jedenfalls heute nicht.

 

 

 

 

ABSCHLUSSFAHRT

 

 

 

 

Wie von mir erwartet flog bei "Absch(l)ussfahrt" so einiges raus - nichts entscheidend Wichtiges, aber doch ein paar nette, kleine Anekdoten, die ich euch nicht vorenthalten möchte. Als erstes gibt es noch eine kleine Marlon-Einführungsgeschichte zum besseren Verständnis seines liebevollen Charakters…;-)

 

Im Buch käme das auf Seite 19 unten, direkt nach: "Da hat er schon ganz andere Sachen gebracht."

 

Ich werde zum Beispiel nie vergessen, wie er die Fünftklässler fast zu Tode erschreckt hat. Das war letzten Herbst. Wir hatten gerade eine Freistunde – regulär, nicht geschwänzt! – und hingen rauchend vor dem Schuleingang herum. Marlon war es langweilig, als sich plötzlich sein Gesicht erhellte. Ich kannte das bereits und rechnete mit dem schlimmsten. Marlon quatschte eine Punkerin an, die ein paar Schritte von uns entfernt ebenfalls rauchte. Ob sie ihm wohl freundlicherweise für ein paar Minuten ihr um den Hals gewickeltes Palästinensertuch leihen würde, fragte er sie. Erst sträubte sie sich ein bisschen, aber als Marlon ihr zwei Kippen dafür anbot, rückte sie es doch heraus. Marlon wickelte sich das Teil um Kopf und Gesicht, so dass nur noch seine Augen zu sehen waren. Er bat mich um meine Sonnenbrille, ich gab sie ihm, er zog sie auf. Lars hatte seine Sporttasche dabei, Wahlpflicht Hockey, und Marlon ließ sich den Hockeyschläger geben. In dieser Aufmachung forderte er uns auf, ihm zu folgen, was wir natürlich rein aus Neugier gerne taten. Wir schlichen hinter ihm durchs Erdgeschoss in Richtung Klassenräume der 5./6. Klassen. Marlon gab uns ein Zeichen zum Anhalten und legte sein Ohr an eine der Türen. Er streckte uns breit grinsend einen Daumen entgegen und winkte uns zu sich heran. Flüsternd erklärte er, dass einer von uns auf sein Zeichen hin die Tür weit aufreißen sollte, Lars erklärte sich sofort bereit dazu. Marlon postierte sich direkt dort, wo die Tür sich öffnen würde. Er zupfte das Palästinensertuch noch einmal zurecht, nahm den Hockeyschläger wie ein Gewehr in Anschlag und nickte. Lars riss die Tür weit auf, wir blieben beide dahinter, damit uns niemand sehen würde. Marlon sprang mit einem Satz in den Raum und ahmte den Hockeyschläger hin und her schwenkend das Geräusch eines Maschinengewehrs nach. RATATATATATAT! Und schon war er wieder draußen. Wir schlugen die Tür hinter ihm zu und rannten weg. Die panischen Schreie der Fünftklässler waren noch zu hören, als wir das Schulgebäude wieder verlassen hatten. Und als sie langsam verstummten kugelten wir uns immer noch vor Lachen brüllend auf dem Boden. Die Fünftklässler bekamen dann den Rest des Tages frei. Ihre Lehrerin auch, sie war fast in Ohnmacht gefallen. Und natürlich war jedem klar, dass das einer von Marlons fiesen Streichen gewesen war, aber nachweisen konnte es ihm keiner, also kamen wir mal wieder ungeschoren davon. Der unvergessliche Terroranschlag auf die Fünftklässler. So etwas meine ich mit sehr böse. Wobei das eigentlich auch noch harmlos ist, verglichen mit dem, was Marlon in seiner Freizeit so alles anstellt.

 

Hier eine kurze Szene, die belegt, wie viel Alkohol die Jungs während der Zugfahrt wirklich vernichten…;-)

Das wäre im Buch dann Seite 37 Mitte.

 

"Okay, Havana" grinst Marlon und stellt die Vodkaflasche zurück. 

Er zieht wieder seine Äpplerbecher aus der Tasche, drückt jedem von uns einen in die Hand und füllt großzügig, um nicht zu sagen mörderisch, den Rum hinein. Als er damit fertig ist, ist die Flasche halb leer.

"Nicht so viel!" zieht Diego seinen Becher zurück. "Bist du wahnsinnig?"

Die nächste Pfütze auf dem Boden. 

"Stell dich nicht so an" grinst Marlon. "Kommt ja noch ein kleiner Schuss Cola drauf."

Er füllt die Becher mit Cola auf. Ich rieche vorsichtig an meiner Mischung und verziehe respektvoll ängstlich das Gesicht. Das wird hart, so viel steht fest.

"Und damit das Ganze ein bisschen interessanter wird, spielen wir drum" sagt Marlon und zieht einen Würfelbecher und einen Bierdeckel aus seiner Tasche.

"Gute Idee!" sagt Lars. "Du hast aber auch echt an alles gedacht. Was spielen wir? Mäxchen?"

"Nein, dauert zu lang" schüttelt Marlon den Kopf. "Jeder einmal mit drei Würfeln, die höchste Punktzahl trinkt."

"Hoch muss trinken?" fragt Seba skeptisch. 

"Hoch darf trinken" berichtigt ihn Marlon.

"Normalerweise trinkt aber immer der Verlierer" sagt Diego. "Soll doch quasi eine Strafe sein."

"Du betrachtest einen leckeren Havana-Cola als Strafe?" fragt Marlon. 

"Jetzt vielleicht noch nicht" grinst Diego. "Aber nach ein paar Runden bestimmt."

"Da hat er Recht" stimme ich zu.

"Na gut, ihr Memmen" stöhnt Marlon. "Dann machen wir’s so: Die ersten zehn Runden trinkt der Gewinner, die nächsten zehn der Verlierer. Ist das okay so, oder muss ich euch jeweils noch bei jedem Schluck das Händchen halten?"

"Oh ja, bitte!" lacht Seba. "Und das Köpfchen streicheln! Und mein Bäuchlein!"

Wir lachen alle, bis Marlon laut den Würfelbecher in der Luft schüttelt.

"So, Leute!" grinst er. "Schluss mit lustig! Jetzt wird’s ernst!"

Und das wird es auch, besonders für Diego, der gleich mal die ersten zwei Runden gewinnt. Natürlich versucht er nur ganz kleine Schlucke zu nehmen, aber keine Chance, Marlon besteht darauf, dass der Mund jeweils prall gefüllt sein muss. Die dritte Runde gewinne ich, die vierte Lars, die fünfte wieder Diego. Marlon würfelt nur Schrott und ärgert sich langsam, dass er noch keinen Schluck trinken durfte. Als die ersten zehn Runden vorbei sind, sitzt er immer noch auf dem Trockenen, während Diegos Becher nach sechs Siegen bereits wieder aufgefüllt wurde. 

"Wollen wir nicht mal ne Pause machen?" ächzt Diego, der bereits sichtlich angeschlagen wirkt. "Das Tempo stehe ich nicht mehr lange durch."

"Beschwer dich nicht" motzt Marlon. "Es gibt Leute hier, die haben noch gar nichts getrunken. Außerdem trinkt ab jetzt der Verlierer. Bei deinem Würfelglück heute hast du gleich automatisch ne Pause. Ich hoffentlich nicht."

Diesen Worten folgen zwei Sechser und eine Fünf und ein lautes Fluchen. Diego verliert, ebenfalls ein lautes Fluchen. Als die zehn Verliererrunden durch sind, hat Marlon immer noch nichts getrunken und Diego kann kaum noch den Würfelbecher halten.

 

In dieser Szene könnt ihr nachlesen, was ursprünglich passiert ist, als Diego mit bemaltem Gesicht fluchend das Abteil verlassen hat. Da gibt es dann auch noch ein kleines Zusammentreffen mit Betzel, diesem Schleimer…;-)

Im Buch käme das auf Seite 51 unten.

 

Er schiebt mit einem lauten Rums die Tür auf und stapft aus dem Abteil.

"Los, hinterher!" zischt Marlon. "Seba, sag Bescheid, wenn die Luft rein ist!"

Die Mädels erheben sich von unseren Schößen, wir stehen alle auf und drängeln uns an die Tür. Seba schiebt seinen Kopf vorsichtig in den Gang.

"Wartet!" hält er uns zurück.

"Was macht er?" will Lars wissen.

"Klo ist besetzt" berichtet Seba. "Er steht davor."

Schweigen. Unerträgliche Ungeduld.

"Die Tür geht auf" flüstert Seba. "Ein alter Mann kommt raus."

Seba fängt an zu lachen.

"Was denn?" quengelt Lars.

"Der Alte hat irgendwas zu ihm gesagt" gluckst Seba. "Wahrscheinlich wegen seinem Gesicht. Diego hat ihn dumm angeglotzt und ihm einen Vogel gezeigt. Jetzt ist er drin!"

Wir schieben uns nacheinander aus dem Abteil auf den Gang und trippeln leise bis vor bis zur Toilette. Marlon legt sein Ohr an die Tür, wir versuchen ebenfalls so nah wie möglich heran zu kommen. Ein Klacken ist zu hören, wahrscheinlich vom Hochklappen der Klobrille. Dann ein Pfeifen, ein fröhlich erleichterndes, willkürliches Pfeifen ohne bestimmte Melodie. Das Pfeifen verstummt. Ein kurzer Moment Stille. Dann drängt Diegos’ gedämpfte Stimme an unsere Ohren.

"Ach du Scheiße!"

Sechs Hände pressen sich auf sechs Münder, um ein verräterisch lautes Lachen zu unterdrücken. 

Von drinnen ist jetzt der laufende Wasserhahn zu hören. Ein Klappern, wahrscheinlich der Seifenspender. Nach einer Weile Wasserplätschern wieder Diegos’ Stimme.

"Oh, Mann! Kacke!"

Spätestens jetzt hat er festgestellt, dass es Edding ist. Das Wasser plätschert weiter.

"Was macht ihr denn da?" fragt plötzlich eine leider bekannte Stimme hinter uns.

Betzel. Ausgerechnet.

"Verpiss dich, Betzel!" zischt ihn Marlon an.

"Wer ist denn da drin?" fragt Betzel unbeeindruckt.

"Geht dich einen Scheißdreck an!" faucht Lars. "Hörst du nicht? Du sollst dich verpissen!"

"Aber renn ja nicht gleich zu Wuttke!" füge ich hinzu.

"Sonst sag ich ihm, du hast mich unsittlich angetatscht" setzt Henny nach.

Sehr gute Taktik, Hut ab. Leider nur von Mädchen anwendbar. Wenn einer von uns Jungs behaupten würde, Henny hätte ihn unsittlich angetatscht, bekäme er dafür mit Sicherheit nur neidisch anerkennend auf die Schulter geklopft.

"Wieso tut ihr eigentlich immer so, als wäre ich die größte Petze?" beschwert sich Betzel. 

"Keine Ahnung" sagt Marlon. "Vielleicht, weil du einfach dein Maul nicht halten kannst und ein widerlicher Schleimer bist?"

"Ich kann sehr wohl mein Maul halten" erwidert Betzel entrüstet. 

"Ja, wenn ich es dir hiermit gleich stopfe" knurrt Lars und droht ihm mit der Faust. "Hatte ich nicht gesagt, du sollst dich verpissen? Du bist ja immer noch hier!"

"Ja, aber ich muss doch mal!" nölt Betzel.

"Das geht jetzt aber nicht" faucht Seba ihn an.

In diesem Moment öffnet sich die Tür der Toilette. Diego kommt heraus, sein Gesicht ist knallrot, eine Mischung aus Wut und kräftigem Schrubben. Der Schriftzug auf seiner Wange ist zwar etwas blasser geworden, aber dennoch nach wie vor deutlich zu lesen. Wir können alle nicht anders, wir müssen einfach lachen.

"Ha, ha! Sehr witzig!" knurrt Diego. "Wer von euch Arschlöchern war das?"

"Ist das Edding?" fragt Betzel. "Das geht nur sehr schwer wieder ab."

"Marlon" knurrt Diego weiter. "Das war doch bestimmt deine bescheuerte Idee."

"Tut mir Leid, Compadre" grinst Marlon breit. "Aber so lautet die Regel."

"Genau" grinst Lars ebenfalls "Wer einschläft hat verloren." 

"So, so" brummt Diego. "Das ist also die Regel. Und warum wusste ich dann nichts davon?"

"Na ja" sagt Marlon. "Das liegt wahrscheinlich daran, dass die Regel erst in Kraft trat, nachdem du eingeschlafen warst. Sorry, aber einer musste schließlich den Anfang machen."

"Na spitze" knurrt Diego und reibt sich die Wange. "Aber eins sag ich euch: Das kommt zurück. Und zwar geballt. Sobald einer von euch auch nur ein Auge zu macht, werde ich da sein. Und dann könnt ihr froh sein, wenn euch eure eigene Mutter überhaupt noch erkennt."

"Uuuuh!" erschauert Marlon gespielt theatralisch. "Jetzt hab ich aber Angst!"

"Solltest du auch" grinst Diego. "Fürchte die Rache des Spaniers."

"Abwarten" zwinkert Marlon ihm zu. "Bis jetzt steht es jedenfalls 1:0 für mich."

"Noch" zwinkert Diego zurück.

"Kann ich dann jetzt vielleicht mal aufs Klo?" quengelt Betzel und versucht sich an Diego vorbei zu schieben.

"Moment!" hält Diego ihn auf. "Wie lautet die Parole?"

"Parole?" erwidert Betzel ungeduldig. "Was denn für ne Parole?"

"Na, die Klo-Parole, natürlich" sagt Diego. "Gibt’s sonst noch eine?"

"Mensch, hör auf mit dem Mist" drängt Betzel in Richtung Tür. "Ich muss echt mal!"

"Komm, lass ihn" sagt Marlon. "Sonst rennt er gleich zu Wuttke und sagt, wir hätten ihn gezwungen in die Hose zu machen."

"Na gut" seufzt Diego und gibt den Weg frei.

Betzel verschwindet so schnell er kann in der Toilette.

"Aber beim nächsten Mal weißt du die Parole!" ruft Diego ihm durch die geschlossene Tür nach.

"Was ist denn eigentlich die Klo-Parole?" fragt Lars leise und meint es wirklich Ernst.

Wir sehen uns alle an und schütteln fassungslos den Kopf.

"Was denn?" beschwert sich Lars. "Ich muss sie doch wissen, falls Betzel mal nach mir aufs Klo will!"

Marlon verkneift sich ein Lachen und blickt ernst in die Runde.

"Was meint ihr?" fragt er. "Sollen wir sie ihm verraten?"

"Ich weiß nicht ..." spiele ich mit und lege eine skeptische Miene auf.

"Schwierige Sache" kratzt sich Seba am Kinn.

"Hey, ich bin doch euer Kumpel!" quengelt Lars.

"Hmmm, na gut" sagt Marlon zögerlich. "Weil du es bist. Also, die Parole lautet: Es ist noch kein Groschen vom Schlauch gefallen."

Ich muss kurz überlegen, bis ich es kapiere. Okay, jetzt hab ich’s. Wenn einer wie Lars gerade auf dem Schlauch steht, fällt bei ihm der Groschen nicht. Nicht schlecht. Ich sag’s ja, Marlon ist alles andere als auf den Kopf gefallen. Im Gegensatz zu Lars.

"Hä?" verzieht er dümmlich sein Gesicht. "Was’n das für ne bescheuerte Parole? Kapier ich nicht."

"Genau darum geht’s ja" grinst Marlon in die Runde. 

Die Mädels fangen an zu kichern. Wir Jungs versuchen Ernst zu bleiben, müssen dann aber doch laut los prusten.

"Was denn jetzt schon wieder?" schaut Lars hilflos von einem zum anderen. "Kann mir vielleicht mal jemand erklären, was daran jetzt so witzig gewesen sein soll?"

Wir lachen alle weiter.

"Ach, macht doch, was ihr wollt!" mault Lars. "Ihr tickt doch nicht ganz richtig."

Er zeigt uns noch einen Vogel und verzieht sich schmollend zurück ins Abteil.

 

Die Szene mit Tanja auf dem Weg zur Dusche war ursprünglich etwas länger. Hier taucht dann auch Frau Panzer zum ersten Mal auf…;-)

Das wäre im Buch auf Seite 64 unten.

 

"Das könnte dir so passen, du perverse Sau!" brüllt sie ihn an. "Aber eher gehe ich mit einer Horde Zombies duschen!"

"Echt?"

Marlon rollt sich von ihr weg und springt auf die Beine.

"Kein Problem" grinst er und zwinkert uns zu. "Zombies kannst du haben."

Er versteift seine Arme und Beine, legt einen irren, leeren Blick auf und stapft zombiemäßig auf sie zu.

"Tanja" sagt er mit hohler Stimme. "Duschen."

Lars steigt mit ein und wankt ebenfalls auf sie zu.

"Tanja. Duschen" krächzt auch er.

Diego lässt sich auch nicht lange bitten.

"Tanja. Duschen."

Die drei rücken immer näher an sie heran.

"Ey, lasst den Scheiß" sagt Tanja. "Das ist nicht lustig."

Sie strecken die Arme nach ihr aus, Marlon zupft an ihrem Handtuch, aber wirklich nur ganz leicht und gespielt, es besteht keinerlei Gefahr, dass es fällt.

"Tanja. Duschen" ertönt es wieder monoton schrecklich im Chor.

Die restlichen Hände rücken immer näher.

"Lasst mich in Ruhe, ihr Spinner!" schreit Tanja.

Sie schlägt ein paar Hände weg, dreht sich um und läuft im Stechschritt davon. Die Jungs folgen ihr im Zombieschritt.

"Tanja. Duschen."

Seba und ich laufen langsam hinterher. Tanja reiß eine Tür auf, die Jungs sind dicht hinter ihr.

"Haut ab!" quiekt sie laut.

"Tanja. Duschen."

Sie versucht, die Tür zu zu drücken, aber die Zombies halten zu dritt dagegen und stoßen sie auf. Es ist der Waschraum. Tanja flüchtet in eine der Duschkabinen, die nur durch Plastikvorhänge abgetrennt sind. Die Jungs wanken auf sie zu. 

"Tanja. Duschen."

Sie schreit so laut sie kann, reißt den Duschvorhang von der Stange und wickelt sich darin ein.. Die Jungs umzingeln sie und tatschen auf dem Vorhang herum.

"Tanja. Duschen."

Tanja. Kreischen. Marlon dreht das Wasser auf. Noch mehr Kreischen. Wobei sie durch den Vorhang geschützt fast gar nicht nass wird, nur die Zombies. Aber wie Zombies nun mal sind, lassen sie sich dadurch überhaupt nicht stören. 

"Duschen. Tanja."

Seba und ich lachen uns mittlerweile fast tot, das sieht wirklich zu geil aus. Und selbst unter Tanjas’ Kreischen mischt sich der eine oder andere Lacher.

"Was ist denn hier los?" ertönt plötzlich eine weibliche Stimme hinter uns. 

Jemand schiebt sich zwischen Seba und mir durch. Oha. Frau Panzer mit ein paar der Mädels im Schlepptau. Nele und Henny sind auch dabei. 

Das Tatschen der Zombies friert ein. Alle Köpfe drehen sich zur Panzer.

"Was ... Was macht ihr denn da?" fragt sie fassungslos.

"Och, nichts" grinst Marlon und wischt sich eine nasse Strähne aus dem Gesicht. "Nur ein kleines Rollenspiel, Frau Panzer."

Tanja dreht das Wasser ab.

"Ein ... Rollenspiel?" fragt die Panzer zurecht skeptisch.

"Ja" antwortet Marlon. "Wir sind Zombies und Tanja ist unser Opfer."

"Äh ... Und was soll das bezwecken?" 

"Keine Ahnung" zuckt Marlon mit den Schultern. "Das müssen sie Tanja fragen, war ihre Idee. Nicht wahr, Tanja, meine liebste Freundin? "

Frau Panzers’ Blick richtet sich fragend auf Tanja. Die Blicke der Jungs auch, allerdings eher um Gnade flehend. Ein Wort von ihr und der erste dicke Ärger mit Wuttke wäre vorprogrammiert. Drei Jungs, die ein Mädchen unter der Dusche bedrängen und betatschen, das klingt mal wieder sexuell äußerst unsensibel, und darauf reagiert Wuttke bekanntermaßen ziemlich allergisch. Das könnte den Jungs im schlimmsten Fall eine Rückfahrkarte bescheren, und das gleich am ersten Tag. Das Schicksal unserer Zombies liegt jetzt allein auf Tanjas’ Lippen. Sie wirft ihnen einen entsprechend wissenden und bösen Blick zu.

"Na ja" wendet sie sich an die Panzer und fängt an verlegen zu kichern. "Ich wollte nur mal wissen, wie das so ist. Ich weiß ja auch nicht warum, aber Zombies haben mich irgendwie schon immer fasziniert, Frau Panzer."

Sehr cool. Hätte ich ihr gar nicht zugetraut. Hut ab. Da kann man sagen, was man will, aber so unterschiedlich die Leute in unserer Klasse auch teilweise sind, der Zusammenhalt ist sensationell und erstaunt mich immer wieder. 

Die triefenden Zombies atmen erleichtert auf. Frau Panzer schaut ratlos verwundert immer noch Tanja an.

"Äh ... Ja ... Gut ..." stammelt sie. "Aber verstehen muss ich das jetzt nicht unbedingt, oder?"

"Ach, kommen sie, Frau Panzer" stupst Henny sie an. "Jetzt tun sie doch nicht so. Wir haben doch alle so gewisse Fantasien. Sie bestimmt auch. Kein Grund, sich zu schämen."

"Bei mir sind es Neandertaler" steigt Nele mit ein. "Große, behaarte Urmenschen. Ein ganzer Stamm."

"Mönche" sagt Henny. "Ich stehe irgendwie auf Mönche. Zumindest träum ich öfter von Mönchen. Aber ihre Gesichter sehe ich nie. Nur schwarze Löcher hinter den Kapuzen. Irgendwie beängstigend. Aber auch sehr geil. Und Sie, Frau Panzer? Was ist es bei Ihnen?"

"Äh ..." 

Die Panzer läuft leicht rot an.

"Na los" hakt Henny nach. "Raus mit der Sprache. Ist doch nichts dabei. Wir sind doch quasi unter uns. Sie können’s mir auch ins Ohr flüstern. Ich sag’s auch bestimmt nicht weiter."

Julian, mein älterer Bruder, hat mir erzählt, dass ihm der Arzt bei der Musterung zur Bundeswehr an den Sack gegriffen hat. Genau so guckt die Panzer gerade. Als würde ihr jemand an den Sack greifen. Wenn sie denn einen hätte, natürlich.

"Äh ..." Ein hektischer Blick auf die Uhr. "Oh! Schon so spät! Wir müssen in zwanzig Minuten oben sein! Los, raus hier! Und zwar alle!"

Gute Entscheidung, Frau Panzer. Anders wäre sie aus der Nummer auch nicht mehr raus gekommen.

 

Auf Seite 191 steht, dass Jonas duschen war. Was er dabei noch so erlebt hat, könnt ihr jetzt

lesen...;-)

 

Jetzt aber nichts wie weg hier. Meinen Stuhl lasse ich stehen, den kann Seba nachher ruhig zurück bringen, ich muss jetzt schleunigst unter die Dusche.

Als ich mein Duschzeug hole, ist unser Zimmer zum Glück leer. Die Pornazzi-Session scheint länger zu dauern, sehr gut. Keine Lust auf dämliche Fragen, weshalb ich ausgerechnet um diese Uhrzeit duschen gehe. Ich schnappe mir meinen Kulturbeutel, eine frische Unterhose und ein Handtuch und gehe Richtung Waschsaal. 

Als ich dort angekommen bin und die Tür öffne, bleibe ich erstarrt stehen. Na super, das hat mir ja gerade noch gefehlt. Fickgeräusche. Aus einer der Toilettenkabinen. Ich versuche anhand des Gestöhnes zu erkennen, wer es sein könnte. Ein Orang-Utan und ein kaputter Auto-Anlasser. So hört es sich jedenfalls an. Unmöglich zu erkennen, wer das sein könnte. Scheiße, was mach ich denn jetzt? Einfach rein gehen und duschen? Nein, das kann ich nicht bringen. Das würden sie bestimmt hören und dann müssten sie mittendrin aufhören und davon hätte ja auch niemand wirklich etwas. Ich bin kein Spielverderber, nicht mein Stil. Aber hier blöd stehen bleiben kann ich auch nicht, wie sieht das denn aus? Dann heißt es am Ende noch, ich wäre ein Spanner. Ich schließe vorsichtig die Tür von außen und lehne mich wartend an die Wand. Klar, ich könnte solange zurück auf unser Zimmer gehen und dort warten. Aber dazu bin ich dann doch viel zu neugierig, wer der Orang-Utan und wer der Anlasser ist. Die Geräusche dringen gedämpft immer noch an mein Ohr, und sie rufen genau die Bilder wieder in mir hoch, die ich durch die kalte Dusche eigentlich vertreiben wollte. Ich fange an, leise vor mich hin zu summen, um die Geräusche zu übertönen, es funktioniert.

Als ich gerade das dritte Lied ansumme, öffnet sich plötzlich die Tür. Ein weiblicher Kopf streckt sich vorsichtig nach draußen und zuckt bei meinem Anblick erschreckt zusammen. Okay, der kaputte Anlasser war also Tanja. Ihr Gesicht ist knallrot, wobei ich mir jetzt nicht sicher bin, ob das an dem Schreck liegt oder einfach nur ein Nachglühen ist.

"Na?" grinse ich sie an. "Verlaufen?"

"Äh ... Ich ..." stammelt sie verlegen. "Nein ... Ich wollte nur ..."

Sie brabbelt irgendwas unverständliches und huscht schnell davon. So, so. Tanja treibt es also mit Vorliebe auf der Jungs-Toilette. Bleibt nur noch die Frage mit wem. Aber auch das weiß ich gleich. Ich öffne die Tür und gehe möglichst nebensächlich hinein, so, als wäre ich gerade erst angekommen. Na, das hätte ich mir aber auch denken können. Der Orang-Utan ist spanischer Herkunft und hört auf den Namen Diego.

Er steht vor dem Spiegel und zupft akribisch an seiner Frisur herum. Als er mich sieht, zwinkert er mir breit grinsend über den Spiegel zu.

"Na?" grinse ich zurück. "Pornazzi gucken schon vorbei?"

"Ach, weißt du" dreht er sich zu mir um. "So als Appetitanreger war das ja ganz nett. Aber ich bevorzuge dann doch eher die gefühlsechte 3D-Fassung. Das ist wesentlich befriedigender."

"Verstehe" zwinkere ich ihm zu. "Habe draußen übrigens gerade Tanja getroffen. Die scheint das ähnlich zu sehen."

"Ja" wird sein Grinsen noch breiter. "Als sie gerade hier raus ist, wirkte sie jedenfalls sehr befriedigt."

"Ja, den Eindruck hatte ich auch."

Wir grinsen beide wissend einen Moment lang um die Wette.

"Aber das muss nicht unbedingt gleich die Runde machen" sagt Diego und legt seinen Zeigefinger an die Lippen. "Okay?"

"Was muss nicht unbedingt gleich die Runde machen? Ich hab keine Ahnung, wovon du redest."

"Ich sehe, wir verstehen uns" grinst Diego. "Und jetzt will ich dich nicht länger aufhalten, was auch immer du hier drin vorhast."

"Also, eigentlich wollte ich nur kurz duschen."

"So, so. Duschen. Feine Sache. Soll ich dir Tanja vielleicht noch mal kurz vorbei schicken?"

"Danke, nicht nötig" grinse ich. "Ich will wirklich nur duschen."

"Tu, was du nicht lassen kannst" zwinkert Diego. "Bis später dann."

"Ja, bis dann." 

Diego verlässt den Waschsaal.